Roman unserer Kindheit
plumpst auf sie zurück. Das hat genügt. Alle haben es hören können. Alle haben es gehört. Alle schauen erschrocken zum Älteren Bruder hin.
Kommandant Silber schaut zurück und sieht zwei halbe Beine. Die knie- und oberschenkellosen Glieder stehen in schwarzen Schuhen, in Socken und Sockenhaltern steif undordentlich vor der Bettkante, auf der er eben noch gesessen ist. Oben, dort, wo die Kniegelenke folgen müssten, haben sie schalenförmige Mulden, von denen Bänder über die Socken hängen. Ach, so ist das. Ach, deshalb ist er auf dem Bauch zum Fenster hingekrochen! Die einstigen Unterschenkel, die früheren Füße, das komplette ehemalige untere Leibesfünftel ist perdu! Das ist natürlich Pech. Andererseits, das fällt ihm ruckzuck und zu seiner sofortigen Erleichterung ein, hat er das Laufen mit den Prothesen ja längst perfekt erlernt. Sind erst einmal die Hosenbeine drüber, kann keiner mehr erkennen, dass der prächtige Kommandant Silber bereits kurz unter den Knien zu Ende ist. Schnell hingerobbt! Schnell Rumpf und Oberschenkel zurück auf das fremde Bett gestemmt. Die Hose hängt, Bügelfalte auf Bügelfalte, in Griffnähe am Stuhl. Alles Weitere wird sich mit Nichtchens Beistand finden lassen.
Unser großer Bruder bestimmt, dass nachgesehen werden muss. Er sagt den anderen so entschieden, wie er es hinkriegt, er wolle jetzt sofort wissen, was da eben im Bauch des Sofas herumgerumpelt habe. Dabei ist ihm kotzschlecht vor Angst. Es ist die gleiche Angst wie vorhin an der Leiter. Die anderen fürchten sich auch. Aber sie denken bloß, dass wieder tote Tiere aus dem Klappfach purzeln werden. Weil sie dieses schon altbekannte Schlimme ganz scharf umrissen vor dem inneren Auge haben, müssen sie das neue Schlimme nicht als einen roten Schemen aus rotem Nebel torkeln sehen. Der Wolfskopf und Ami-Michi wollen das Sofa wie letztes Mal hochkant stellen und zu Boden krachen lassen. Aber der Schniefer meint, vielleicht seien die Hebel in seinem Inneren inzwischen wieder heil, vielleicht hätten die Huhlenhäusler den Mechanismus repariert. Gemeinsam rückensie das Möbel ein Stückchen von der Birke weg. Dann treten Sybille und Wolfskopf hinter die Lehne und drücken sie nach vorn. Klick-klack. Alle hören es klicken. Und als die Polsterkante vierhändig zurückgezogen wird, klappt die Sitzfläche, so, wie es sein soll, wie der Oberkiefer eines besonders breitmäuligen, eines gemütlich braven Wiederkäuers, in die Höhe – weit genug, um alles, was im Dunkeln lag, der Sonne preiszugeben.
Kommandant Silber stapft, die linke Hand auf dem Geländer, nach unten. Im Erdgeschoss wird sich sein Nichtchen finden lassen. Die schön geschwungene Treppe hinabzusteigen, bereitet ihm Vergnügen. Dies ist ein stolzes, altes Bauwerk. Mit dicken Mauern, die jetzt im Sommer für eine angenehme Kühle sorgen. Nur schade, dass nirgendwo ein Spiegel hängt. Das Treppenhaus ist völlig kahl, als wäre ein Orkan hindurchgefegt, als hätte dessen Sog die Kokosläufer von den Stufen gerupft und die Bilder samt ihren Haken von den weißgestrichenen Wänden weggerissen. Vielleicht ist auch geplündert worden. Wie lang mag das schon her sein? Kommandant Silber versucht, mit seinem Vergangenheitsgespür, mit seinem Geschichtsgefühl abzuschätzen, wie weit sein momentanes Stufensteigen und dieser Krieg, dem er Füße und Unterschenkel opfern musste, schon auseinanderliegen. Es könnten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte sein. Jahrzehnte voll mit neuem Krach und neuem Krieg. Schade, dass er nicht Zeitung lesen kann. Nichtchen tut es mit Leidenschaft. Ihm aber reicht ein Blick auf die oberste, fettgedruckte Zeile, schon fallen ihm die Augen zu. Kaum besser geht es mit dem Rundfunk. Nichtchen muss die Skala, sobald sich eine Stunde rundet, bloß zum Glimmen bringen, schon quarren ihm die Kiefer, so arg ist er am Gähnen. Die Zeitansageund den Sendernamen hört er schon wie durch Watte. Und wenn die Auftaktmeldung hinausgetrötet wird, mit jener blechig hohlen Lakonie, die irgendwann den dichten, feierlichen Ernst der Kriegszeit abgelöst hat, kann sich das Gemeinte schon nicht mehr aus dem Getöne lösen, die ganze spröde Informationsmusik verschwimmt ihm in den Nebeln des Halbschlafs. Aber auch ohne Radio und Zeitung ist er sich auf den letzten Stufen plötzlich sicher, dass er – Jahrzehnte hin, Jahrzehnte her – noch immer ein wackerer alter Krieger, dass er Soldat im anhaltenden Nachkrieg ist. Wo aber sind die Kameraden
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