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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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abgeblieben? Sie waren drei. Zuletzt waren sie nur noch drei. Immerhin drei! Die Sehnsucht nach den beiden zuletzt verlorenen Kameraden steigt dem Kommandanten aus dem Herzen in den Hals, ein Schluchzen schüttelt ihn so arg, dass er sich ans Geländer klammern, dass er sich, am Fuß der Treppe angekommen, erst einmal auf die vorletzte Stufe hocken muss. Kommandant Silber will ein bisschen weinen.
    Es ist ein toller Fund! Und die Freunde haben darauf bestanden, dass der Ältere Bruder das gemeinsam Entdeckte sogleich ausprobiert. Der hat die Dinger zunächst für unbrauchbar, für viel zu lang erklärt. Aber der Wolfskopf, der am Wochenende oft mit seinem Vater sägt und schraubt, hat auf den ersten Blick gesehen, dass sich die Rohre ineinanderschieben lassen und zwei Stifte, die an Kettchen baumeln, dazu da sind, die gewünschte Länge zu fixieren: Links wie rechts mussten sie jeweils ins erste Loch. Sybille wischte mit dem Taschentuch des Schniefers das Öl ab, das aus den unteren Rohren gequollen war. Der Ältere Bruder wagte einen letzten halbherzigen Einwand. Doch ohne sich noch einmal nach seinem Wollen zu erkundigen, zogen ihn dieanderen aus seiner Karre. Das Weitere war leicht. Denn alle wissen, wie die lederbezogenen Mulden der Krücken hinter die Oberarme gehören und dass die Fäuste die gerippten Gummigriffe packen müssen.
    Jetzt steht der Ältere Bruder da. Der Wolfskopf und der Schniefer halten ihn an den Ellenbogen, aber schon befiehlt Sybille den beiden loszulassen. Er wackelt kläglich. Alle sehen seine dünnen Arme gegen die viel zu weiten Halbkreise aus Leder schlagen, die ihm komisch weit oben, direkt unter den Achseln, sitzen. Noch hält er den verbundenen Fuß krampfhaft in der Schwebe, aber schließlich taucht dessen Spitze ab ins Gras, und unser großer Bruder merkt, wie viel stabiler er jetzt steht, obwohl das lädierte Bein nur leicht, fast drucklos auf die Erde tippt. Zugleich ist er sich sicher, dass er damit etwas Verbotenes tut. Professor Felsenbrecher hätte der Mutter gewiss Krankenhauskrücken, wahrscheinlich sogar besondere Kinderkrücken mitgegeben, wenn er es für richtig hielte, dass sich sein Patient in die Senkrechte stemmt. Nach Hause darf er das Geschenk des Sofas also nicht mitnehmen. Jedoch hier unten am Rosenhang, wo sogar Möbel laufen, wenn keiner auf sie aufpasst, will er, jetzt gleich, noch mehr Verbotenes tun.
     
    Ich weiß, was nun geschieht. Und mir ist alles andere als wohl dabei. Aber mir kommt nicht in den Sinn, den Älteren Bruder deswegen zurück auf die grüne Couch oder gar wieder in seine Karre hineinzulocken. Ich bin nicht Jesus. So weit mein Sommer reicht, wird mir kein hoher Vater, kein Himmelspapi abverlangen, die Welt nach seiner höheren Ordnung zurechtzurücken. «Ich bin nicht Jesus!», sagt der alte Doktor Junghanns nicht ohne Spott, nicht ohne ein Gran Tadel,wenn ein Patient, der es mit dem Gesundwerden besonders eilig hat, nach einem extrastarken Mittel, nach einem Wunderwässerchen aus dem Geheimschrank des Apothekers im Elsternhorst verlangt. «Leider bin ich nicht Jesus!», sagte er auch vorhin im grünen Block in einem anderen, in einem männlich mürben, dabei nicht ungalanten Tonfall zu Frau Roser, als diese zum ersten Mal ohne Beschönigung über das Ausmaß ihrer Schmerzen sprach. Heute sei es so arg wie nie. Ob sie sich rühre oder nicht, allein vom bloßen Liegen täten ihr der Rücken und die Glieder entsetzlich weh. Der Doktor nickte. Über die Stärke der Schmerzen, auch über deren Allgegenwart brauche sie sich nicht zu wundern. Sie könne sich ja denken, dass ihr spätes, überreifes Brustkind sie mit vielen kleinen Enkeln ausgestattet habe, die inzwischen, wie es nun mal ihre Art sei, allerlei groben Unfug in den Knochen trieben.
    Als ihn Frau Roser fragte, ob sie sich die Wirbelsäule, wie es Sohn und Schwiegertochter wünschten, durchleuchten lassen solle, riet er ihr entschieden davon ab, dieser Rasselbande mit Röntgenstrahlen hinterherzuforschen. Sie spüre doch auch so, wie viele es inzwischen seien und wie endgültig rücksichtslos sie in ihrem Körper aufzuspielen angefangen hätten. Er sei nicht Jesus, aber er sei zweimal im Krieg gewesen, also wisse er, was wirklich gegen Schmerzen helfe. Die nötige Ampulle habe er dabei. Die ganzen letzten Male, den ganzen Sommer lang, sei sie, hier in seiner Tasche, mit ihm zu ihr ans Bett gewandert. Und jetzt, wo der August in seine Abschiedsrunde gehe, sei der Moment gekommen, dem

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