Roman unserer Kindheit
Glasding den dünnen Hals zu brechen.
Während Frau Roser zusieht, wie zittrig und routiniert ihr Hausarzt die Nadel in eine ihrer hochgewölbten Adernschiebt, hebt unser großer Bruder unten am Rosenhang den Kopf. Sein Blick braucht gar nicht lang nach einem Ziel zu suchen. So weit sind sie noch nie den Berg hinab und zugleich Richtung Bärenkeller vorgestoßen. Das fehlende Wegstück schräg hinüber, wieder hinauf, hinauf zur Mauer, die den Biergarten der verlassenen Wirtschaft umschließt, erscheint ihm plötzlich verlockend kurz. Hier ist der Hang zudem nur karg bewachsen, mit gelblichem, fast weiß verdorrtem Gras, platt auf den harten Grund gedrückt wie Haar auf einen Greisenschädel. Bis dorthin will er es nun schaffen. Der Ältere Bruder reckt das Kinn. Er wirft sich in die Brust. Er will, bevor das Stelzen losgeht, bevor ihm die gewiss zu früh erschöpften Arme beben, bevor er womöglich mit einem der Gummipfropfen in einem Mausloch hängen bleibt und auf die Nase knallt, bevor er vielleicht doch noch vor den anderen losheult, ein möglichst gutes Beispiel geben.
Frau Roser ist indes am Staunen. Sie wundert sich darüber, wie viel moderne Pharmazie vermag, und ist sich, glücklich schwebend, sicher, seit ihrer Kindheit nicht mehr derart froh über ein menschliches Erzeugnis und seine Wirkung gewesen zu sein. Es ist zum Weinen schön, dass so viel Wärme und Wohlgefühl, dass der komplette Vorgeschmack seliger Erlösung in eine kleine Glasampulle passt. Sie will dem guten Doktor Junghanns mit ein paar netten Worten danken, aber ihre losgelassene Zunge hat bereits etwas anderes vor: «Los, Freunde, los!», hört sich Frau Roser mit heller, hoher Knabenstimme rufen. «Alle mir nach! Auf in den Bärenkeller!»
Regentag
Die Witzigen Zwillinge sollen sich auf ihre Weise um Sybilles kleine Schwester kümmern. Annabett Böhm hat sich nicht gescheut, die Mutter der Buben darum zu bitten. Ihr Töchterchen trage einen Verdruss, irgendeinen hartnäckigen Ärger auf dem Herzen. Es hänge gewiss damit zusammen, dass sie es geschafft habe, ihre geliebten roten Sandalen zu verlieren. Wie dies unten auf den schon dämmrigen Wiesen des Spielplatzes geschehen konnte, sei aber einfach nicht aus ihr herauszukriegen. Die Kleine sei seitdem so starr und stumm wie ein Scheit Holz. Als Mutter stehe sie momentan auf verlorenem Posten. Den Zwillingen hingegen könnte es vielleicht gelingen, ihre verstockte Spielkameradin mit Scherzen und lustigen Geschichten aufzuheitern.
Die so Gebetene macht es stets stolz, wenn ihren Söhnen guter Einfluss auf andere Kinder zugesprochen wird. Allerdings weiß sie, wie leicht die wilde Redseligkeit der Knaben mit anderen Talenten, mit irgendwelchen Überredungskünsten, mit dem Vermögen zu beruhigen, ja zu belehren, verwechselt wird. Sybilles kleine Schwester war schon in ihren Sandkastentagen berüchtigt dafür, dass sie nach einem unverwechselbaren Brüten mit halb herabhängenden Lidern plötzlich in Schreien ausbrach und die anderen Kinder mit allem, was ihr in die Hände kam, beschmiss. Die Zwillinge sind bereits damals regelmäßig diejenigen gewesen, die das Unheil früher als alle aufziehen spürten, und oft genug gelanges ihnen, die dräuende Wut des Mädchens mit einem Spaß noch rechtzeitig in ein blödes Gekicher oder in eine kleine Serie konfus herausgeplapperter Beschimpfungen abzuleiten.
Jetzt sitzt Sybilles kleine Schwester mit dem Fröhlich-Mädchen auf einer Decke unter der Robinie, dem schönsten Baum des Hofs. Die beiden haben ihre Puppensachen ausgebreitet. Das Fröhlich-Mädchen ist laut am Schwatzen, munter wechselt sie, während sie ihrer Puppe Anziehsachen über Kopf und Ärmchen streift, zwischen einer erstaunlich sonoren Mutter-Stimme und einem Töchterchen-Piepsen hin und her. Die Zwillinge erkennen schon beim Hinüberlaufen, dass Sybilles Schwester nicht richtig mitspielt. Sie hält zwar eine ihrer beiden Puppen auf dem Schoß, hat sie auch nackig ausgezogen, dreht aber bloß in einem fort ein Puppenbein im Kreis herum, als wolle sie prüfen, wie lange der Gelenk-Nippel oder der Ring, der ihn im Rumpf umschließt, das Kreisen aushält. Die Puppe tut den Zwillingen leid, die Mutter würde sagen: «Das arme Ding kann wirklich nichts dafür!» Und schon sind sich die beiden einig, dass sie ihr Glück mit dem Witz versuchen wollen, in dem ein kleiner Junge von seiner Oma, der im Kopf schon einiges durcheinandergeht, an Weihnachten einmal, zweimal und schließlich
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