Roman unserer Kindheit
zum dritten Mal eine Babypuppe samt Strampler und Mützchen überreicht bekommt.
Sybilles kleine Schwester sieht ihren Anmarsch. Sie sieht sogar die gute Absicht, die den Zwillingen den Rücken strafft, die schmale Brust zum Bug spannt und sie in einen bedeutungsschweren Gleichschritt fallen lässt. Zunächst ist sie bloß entschlossen, sich taub zu stellen. Da geht, wie es der Teufel will, genau im richtigen Moment das blöde Beinab. Sie schaut sich den komischen Knubbel, in dem es endet, noch kurz an, dann lässt sie das Glied und die einbeinige Puppe auf die Decke plumpsen, springt auf und stapft den Witzigen Zwillingen das letzte Stück entgegen. Erstens würde die plappernde Fröhlich-Göre bei allem Weiteren nur stören, zweitens wird es gleich gewaltig regnen, und drittens flutscht fast allen Menschen, auch kleinen Mädchen, eine richtig gute, erzgemeine Wahrheit am besten nach kurzem Anlauf und abruptem Stillstehen aus dem Hals.
Die Mütter, die drinnen die Hüften an zwei verschiedene Küchenfensterbretter drücken und jeweils eine andere Sorte Instantkaffee trinken, beobachten, wie die drei auf der Wiese zusammenstoßen. Annabett Böhm verschluckt sich schon im Voraus, muss nun so schrecklich husten, dass sie es eben noch schafft, die Tasse und die vollgeschwappte Untertasse auf dem Fensterbrett in Sicherheit zu bringen. Der Mutter der Zwillinge hingegen gelingt es mühelos, einen besonders langen Zug am Glasrand, ein gieriges Füllen fast des ganzen Mundes und sogar noch das anschließende dreiteilige Schlucken mit übergenauem Hinschauen zu verbinden. Sie sieht den Vorstoß ihrer Söhne enden. Die beiden kommen gar nicht zu Wort. Die kleine Göre knallt ihnen zwei Sätze vor die Brust, die jeden möglichen Witz im Keim ersticken.
Die Mutter nimmt einen weiteren großen Schluck, ohne den Blick von den nun stumm dastehenden Kindern wegschwenken zu können. Am anderen Fenster hat ihre Nachbarin endlich ausgehustet. Während Annabett Böhm sich den schmerzenden Hals reibt, sieht sie ihr Töchterchen, deren Lippen zuletzt bloß noch zum Essen und zum Trinken auseinandergingen, mit einem merkwürdigen, die Milchzähne fletschenden Grinsen auf Antwort warten. Sie nimmtdie Tasse hoch, aber zum Trinken zittert ihr die Hand zu sehr, und beim Versuch, sie wieder auf dem Unterteller zu platzieren, verfehlt sie dessen Mitte, und beide Teile kippen von der Fensterbank.
Das Klirren kann unsere Mutter auf der anderen Seite des Hausaufgangs nicht hören. Aber sie spürt einen Anflug von Schadenfreude, spürt, dass sich dieses süßlich böse Gefühl auf ihre Nachbarin bezieht, und etwas in ihr beginnt sogar zu spekulieren, welcher Schaden Annabett Böhm in diesem Moment geschehen sein könnte. Sie leert ihr Glas bis auf den Grund. Die Zwillinge, denen gleich ihrem großen Bruder nur selten die Worte ausgehen, sind angestrengt am Schweigen. Stirnrunzelnd schauen sie Sybilles kleine Schwester an. Die grinst so unerschütterlich, wie sie noch nie gegrinst hat, schweigt souverän zurück. Die Buben fühlen das ganze Ausmaß ihrer Niederlage. Ein schmählicher Rückzug steht an. Sie drehen sich synchron, und beide überlegen, ob unser großer Bruder, wenn sie ihn nachher fragen werden, erklären kann und auch erklären mag, warum Sybilles Schwester eben sagte: «Meine Mama wollte auch mal mit eurem Papa ficken, aber eure Mama hat es vorher gemerkt.»
Zum Glück kommt endlich das Gewitter. Die Wolken, die sich nach und nach über den Hof geschoben haben, schließen den letzten lichten Fleck. Es flackert bläulich zwischen den Kaminen, vom Gaswerk her hören die Kinder einen ersten wuchtigen Donnerschlag. Das Fröhlich-Mädchen wirft alle Puppensachen in die Mitte der Decke, nimmt deren vier Zipfel in beide Hände und schleift das Bündel durch den jäh herabstürzenden Regen über die Wiese zum letzten Aufgang des grünen Blocks, zum nächstliegenden Unterschlupf. Die Zwillinge wenden die Lockenköpfe und sehen, ihre Überwinderinkommt nicht von der Stelle. Jetzt sinkt sie sogar in die Hocke und glotzt, als könnte sie durch grüne und dann auch noch durch rosarote und türkise Mauern bis in den letzten, bis in den weißen Block hineinschauen. Die beiden vermuten richtig. Sybilles kleine Schwester sieht wirklich in diesen letzten unbewohnten Bau hinein. Sie sieht ins Innere des Hauses, das der Vater, der an allen fünfen mitmauern musste, mehr als einmal «unsere weiße Missgeburt» genannt hat. Die Zwillinge verstehen,
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