Roman unserer Kindheit
die Kleine sitzt in diesem Glotzen, sie klebt in ihrem blöden Grinsen, in ihrem Zähnefletschen fest. Also machen sie kehrt, treten neben das Mädchen und nehmen seine Hände, um sie – zum Teufel mit dem, was sie gesagt hat! – durch eine wahre Wand aus Wasser bis an die dichtbetropfte Glastür und in den Hauseingang hineinzuziehen.
Die Mutter gießt sich frischen Kaffee auf. Sie rührt im Glas, so heftig, dass der Löffel klappert. Sie sehnt sich nach einem Lied. Die letzte dumme Schnulze wäre ihr jetzt recht, aber der liebe Zufall der Radio-Programme, der ihr so häufig beisteht, kann ihr leider nicht aus der Patsche helfen. Das Grübeln, das Denken ohne Halt, wird diesmal nicht in Musik getaucht und in Musik gelöst, weil das Gewitter mit seinen unsichtbaren elektrischen Fäusten in der Antenne, in den Röhren und auf der Pappmembran des Apparates wütet. Es knattert und kracht so laut wie nie. Das kann dem Radio nur schaden. Seufzend dreht sie es aus und zieht zur Sicherheit auch noch die Stecker aus Steckdose und Antennenbuchse und denkt, dass drüben, in der Böhm’schen Wohnung, ihre patente, zum Guten wie zum Schlechten stets rasant schnell entschlossene Nachbarin bestimmt schon vor ihr das Gleiche mit dem Radio und dem kostbaren neuen Fernseher gemacht hat.
Aber sie täuscht sich gründlich. Annabett Böhm sitzt inzwischen mucksmäuschenstill auf dem Küchenboden, den Rücken an der Wand, den Scheitel ihres schönen schwarzen Haars von unten gegen das Fensterbrett gedrückt. Kehrschaufel und Handfeger liegen ihr im Schoß, sie hat es noch nicht geschafft, sich um das zersprungene Porzellan zu kümmern. Das Nachdenken raubt ihr die ganze Kraft. Vom Tag der Eheschließung an ist sie ihrem Gatten, dem kleinen Gas-Böhm, mit eisernem Willen treu geblieben. Sie war entschlossen, ihre Schrebergartenschuld mit unerschütterlicher Monogamie, mit Treue bis ans Grab, abzubüßen. Über zehn Jahre ging das gut. Aber dann hat ihr ausgerechnet das Fernsehen einen schlimmen Streich gespielt.
Ein Dutzend Schritte weiter wurmt es die Mutter unter Donnern und Blitzen wieder einmal, dass sie ihrer Nachbarin nicht verzeihen kann. Während der Regen das Fensterblech für nichts und wieder nichts mit tausendundeinem Hieb bestraft, sagt sie sich halblaut, Annabett Böhm sei eben eine dieser Frauen, die gar nicht anders könnten. Derartige Frauen erlägen einfach jenem einen Etwas, das die Mutter zwar nicht aus eigenem Erleben kennt, aber gerade deshalb um so inniger zu ahnen glaubt. Am letzten Wochenende des süßen Monats Mai, an einem ungewöhnlich warmen Abend, hatte in der Wohnküche der Böhms der erste und einzige gemeinsame Fernsehabend der Ehepaare angehoben. Die Vorhänge waren säuberlich vorgezogen, die Mädchen bereits ins Bett geschickt. Außer dem erst am Nachmittag von Herrn Lutscher persönlich angelieferten und eingestellten Apparat durfte nur noch ein ebenfalls neues Fernsehlicht den Raum erhellen. Die Mutter hatte das Modell sogleich erkannt. Erst kürzlich war es ihr unter anderen Lämpchen, die demgleichen Zweck dienten, im Schaufenster von Elektro-Lutscher aufgefallen. Die Zwillinge, mit denen sie vor der frisch dekorierten Auslage gestanden war, hatten sie, ihrem Blick folgend, sogar gefragt, ob man denn unbedingt ein Fernsehgerät besitzen müsse, um eine solche Lampe kaufen und aufstellen zu dürfen. Sie beide würden sich, solange noch kein Fernseher in Aussicht sei, das Warten gern von diesem großartigen Segelschiff, von diesem Leuchtboot versüßen lassen.
Bei Böhms stand ebendieses Schiff auf dem Häkeldeckchen, das das hochglänzend lackierte Furnier des Fernsehers vor Kratzern schützen sollte. Erst als er eingeschaltet wurde und sich die Bildröhre zunächst knackend und summend, dann eifrig brummend erwärmte, nahm Annabett Böhm den schwarzen Rumpf in beide Hände und stellte das Schiff, ohne die Birnchen auszuknipsen, die hinter den pergamentartigen Segeln der drei Masten glommen, zur Seite ins Regal. Als dann die Melodien tobten, als in den Dekolletés der Sängerinnen die bleichen Busen wie Blasebälge in die Höhe stiegen, schielte die Mutter immer wieder, um wenigstens die Augen dem schamlos direkten Ansturm der Operette zu entziehen, zu diesem Segelboot hinüber.
Vor der Scheibe von Elektro-Lutscher war ihr von ihren kleinen Schlaumeiern dargelegt worden, warum es sich allein um das Schiff von Piraten handeln könne. Die Totenkopffahne habe Frau Lutscher gewiss bloß
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