Roman
gewohnten Ort zurückgeblieben war, wo sie Tag für Tag die Erinnerungen eingeholt hatten. Damals hatte sie manchmal davon geträumt, einfach alles hinzuwerfen und woanders hinzuziehen. Aber wegen der Kinder hatte sie diese Idee nie ernsthaft weiterverfolgt. Es reichte ja schon, dass die Familie zerbrochen war. Da hatte sie Sophie und Philipp nicht auch noch das vertraute Umfeld wegnehmen wollen. Eine gute Entscheidung, wie sie heute empfand.
„Mudder Deresa“, hatte Ritas einziger Kommentar dazu gelautet.
Kristina war geblieben, Peter war gegangen. Sie hatte nicht ausziehen müssen. Trotzdem war sie durch die Trennung in ein völlig neues Leben katapultiert worden. Sophie und Philipp waren zwar schon aus dem Gröbsten heraus gewesen, aber dennoch hatte die Scheidung neue Tatsachen geschaffen – auch finanziell. Erst nach einigen Anfangsschwierigkeiten war es Kristina gelungen, sich mit der neuen Situation anzufreunden und das Beste daraus zu machen.
Dazu hatten der Umbau und die Eröffnung ihrer Massagepraxis gezählt. Sie hatte den Beruf gelernt, aber ihn mit der Geburt der Zwillinge aufgegeben. Um nach der Trennung ihre Kenntnisse aufzufrischen und die neuesten Trends zu lernen, hatte sie ein paar Schulungen und Kurse besucht. Danach war sie durchgestartet. Für die Behandlungsräume im Erdgeschoss hatte sie einen separaten Eingang bauen lassen. Ihre Patienten sollten ja nicht durch ihr Wohnzimmer in die Praxis marschieren. Damals hatte sie die Umbauarbeiten bewusst klein gehalten, denn für größere Maßnahmen hatten ihr Geld und Mut gefehlt. So hatte sie nur das Allernötigste in Angriff genommen. Inzwischen war ihre Praxis in die Jahre gekommen. Eine Modernisierung war eigentlich dringend notwendig, doch bislang hatte sie sich nicht dazu durchringen können.
Nun betrat Kristina durch die Verbindungstür in der Praxis das Treppenhaus und stieg hinauf in die Privaträume, die sich allesamt im ersten Stockwerk und unterm Dach befanden. Früher hatten hier Sophie und Philipp gewohnt. Aber die beiden gingen inzwischen eigene Wege.
Vor zwei Jahren hatte Philipp seine Sachen gepackt und war in eine kleine Wohnung in der Nähe der Uni gezogen. Zurzeit bereitete er sich auf seine Zwischenprüfungen vor. Ein Gefühl von Stolz und Glück durchströmte Kristina, als sie an ihren Sohn dachte. Für sein Alter – er war gerade 22 geworden – besaß er eine Zielstrebigkeit, die Kristina immer wieder in Erstaunen versetzte. Philipp wusste genau, was er wollte. Im Gegensatz zu ihr selbst. Ein kleines Scheibchen von Philipps Mut, das wünschte Kristina sich. Als er ausgezogen war, hatte er sie dazu motiviert, sein früheres Jugendzimmer neu einzurichten. Es hatte jedoch einige Monate gedauert, bevor Kristina das in Angriff genommen hatte. So ein Abnabelungsprozess brauchte eben Zeit.
Sophie war vor einem Jahr zu ihrem Freund Sven gezogen. Sie war zwei Minuten jünger als Philipp, aber was das Berufliche betraf, war sie ihrem Bruder um Jahre voraus. Bereits mit 17 hatte sie Abitur gemacht und danach ein Grafik- und Designstudium im Schnelldurchlauf absolviert. Seit einem Jahr arbeitete sie als Layouterin in der Redaktion einer Frauenzeitschrift und verdiente sehr gut. Auch wenn Sophie im Vergleich zu ihrem Bruder finanziell längst auf eigenen Füßen stand, bereitete ihr das Erwachsenwerden erheblich mehr Probleme als Philipp. Wenn sich nicht alles um sie drehte, drehte sie einfach durch.
Was habe ich nur falsch gemacht?, überlegte Kristina. Warum begriff Sophie nicht, dass diese egozentrische Haltung nicht cool, sondern kindisch war? Insgeheim gab Kristina ihrem Ex-Mann die Schuld daran. Schließlich hatte er sein kleines Sophiechen wie eine Prinzessin behandelt und sie gnadenlos verwöhnt. Peter hatte für seinen kleinen Liebling jedes Problem aus dem Weg geräumt. Wie oft war er ihr in den Rücken gefallen, wenn Kristina versucht hatte, Sophie dazu zu bewegen, ihre Einstellung zu überdenken? „Lass sie doch“, hatte Peter immer gesagt, „Sophie ist eben etwas ganz Besonderes.“ Und Sophie hatte sich an den Vater geschmiegt und der Mutter böse Blicke zugeworfen. Dieses Verhalten von Peter war einer der vielen Gründe, warum die Ehe letztlich gescheitert war.
In weiser Voraussicht hatte Kristina das Zimmer ihrer Tochter nicht verändert. Denn in regelmäßigen Abständen krachte es zwischen Sophie und Sven, und dann zog Sophie auf unbestimmte Zeit wieder bei ihr ein – bis Sven auf Knien angerutscht kam und
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