Roman
jetzt hatte sie Tanja und deren Freundin ins Visier genommen und steuerte auf sie zu. Die beiden jungen Frauen saßen auf dem Steg und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Das war Ritas Startsignal.
„Ist es kalt, das Wasser?“, fragte Rita mit Unschuldsmiene und betrachtete Tanja, die zu ihren Füßen saß. Statt der Bikinischönheit Zeit zum Antworten zu geben, fuhr Rita gleich fort: „Wenn im grönländischen Sommer die Menschen zum Baden gehen, ziehen sie sich nicht aus, sondern an. Die Seen in Grönland erreichen im Hochsommer gerade mal sieben Grad.“
Tanja starrte sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen.
Doch Rita ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wer es sich leisten kann, hat einen Ganzkörperanzug aus Neopren. Damit kann man auch in Eiswasser baden. Gelegentlich wünsche ich mir diese Sitte auch bei uns“, erklärte sie mit süffisantem Lächeln. „Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass oft ausgerechnet diejenigen, die es sich am wenigsten leisten können, am wenigsten anziehen?“
Tanja bedachte Rita mit einem Blick, der selbst Kristina das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann sprang Tanja ins Wasser und schwamm davon.
„Na, denen hast du es gegeben“, meinte Sebastian, der fasziniert gelauscht hatte.
„Das musste sein“, gab Rita zurück. „Wir sind zwar alt, aber nicht blöd.“
„Wer sagt, dass ihr alt seid?“, wollte Amanda wissen.
„Die Wassernixe“, antwortete Kristina und deutete in Tanjas Richtung.
„Ach, die“, sagte Amanda und winkte ab. „Die dürft ihr nicht ernst nehmen. Mir hat sie erzählt, dass sie Buddhistin wäre und an die Wiedergeburt glauben würde. Sie hat behauptet, dass sie zuletzt eine große Königin irgendwo in Afrika gewesen wäre.“
„Ich finde Reinkarnation ja grundsätzlich ein spannendes Thema“, erwiderte Rita amüsiert. „Allerdings reicht meine Erinnerung gerade mal bis zu meinem zweiten Lebensjahr zurück. Was davor war? Ich habe keinen blassen Schimmer. Es ist schon interessant, dass all die Wiedergeborenen unter uns entweder Prinzessinnen, Nobelpreisträger, Priesterinnen, Großgrundbesitzer oder Feldherren gewesen sind. Keiner war in seinem früheren Leben auch mal Regenwurm, Tagelöhner, Diktator oder Serienkiller. Aber die hat’s doch damals auch gegeben, oder?“
Alle lachten. Immer mehr Gäste gesellten sich zu ihnen. Dann drehte irgendwer die Musik lauter, und Stevie Wonders Happy Birthday erklang. Es war Mitternacht. Kristina schaute sich suchend um. Sie wollte zu Tom und ihm gratulieren. Schließlich entdeckte sie ihn und bahnte sich den Weg zu ihm. Als sie sich endlich durchgeschlängelt hatte, sah sie Tanja neben ihm stehen, die ihn anflirtete.
„Da bist du ja“, sagte er, als er Kristina erblickte.
„Herzlichen Glückwunsch“, hauchte sie ihm ins Ohr und küsste ihn. „Alle deine Wünsche sollen in Erfüllung gehen.“
Er küsste sie auf die Nasenspitze. „Ich bin wunschlos glücklich. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche.“
„Dürfen wir das junge Glück stören?“, schaltete Sebastian sich ein und klopfte Tom auf die Schulter. „Alles Gute zum Geburtstag.“
Während die anderen Gäste ihm gratulierten, wich Kristina nicht von seiner Seite. Das war nicht allein ihre Entscheidung: Wann immer sie gehen wollte, hielt Tom sie zurück. Und so verbrachte sie den Rest der Feier mit ihm und dachte nicht mehr an den kleinen Fehlstart zu Beginn der Party.
Als gegen drei Uhr morgens alle Gäste gegangen waren, saßen Kristina und Tom auf dem Steg. Tom hatte noch eine letzte Flasche Champagner gefunden, goss den Rest in zwei Gläser und stieß mit ihr an. „Ich habe jede Menge Komplimente bekommen“, meinte er. „Deinetwegen.“
Kristina sah ihn fragend an.
„Meine Freunde finden dich toll.“
„Und keiner hat mich für deine Mutter gehalten“, sagte Kristina mit einem Grinsen.
Er lachte auf. „Na ja, ein paar.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Ich liebe dich.“
Kristina musste schlucken. Diesen Satz hatte sie seit Ewigkeiten von keinem Mann mehr gehört. Sie schwieg.
21
Als Kristina vorfuhr, wartete Philipp bereits vor dem Haus. Er verstaute zwei Reisetaschen im Kofferraum und stieg zu ihr ins Auto. „Hallo Mama“, begrüßte er sie und küsste sie auf die Wange. „Nett von dir, dass du mich zum Flughafen bringst.“
Sie fuhr los. „Ist Sophie bei dir?“
„Ja, sie ist gestern hier aufgetaucht und wohnt vorübergehend bei mir, solange ich in New York
Weitere Kostenlose Bücher