Romana Exklusiv 0188
bald dreißig wurde. Am Morgen ihrer Fahrt nach Devon hatte sie beim Blick in den Spiegel das erste graue Haar entdeckt. Oder hatte sie sich getäuscht? Zum Glück war sie blond, sodass es nicht so auffallen würde, wenn es mehr wurden. Vielleicht sollte sie sich einige Strähnen machen lassen …? Da sie den Zug nicht verpassen durfte, beeilte sie sich mit dem Make-up. Dennoch hatte sie sich in keiner guten Stimmung befunden und dem Tag mit gemischten Gefühlen entgegengesehen.
Ivor hatte ihr nicht viel Zeit gegeben, das Manuskript zu lesen, und sie hatte es bis zum letzten Moment aufgeschoben. Da sie es nicht mit ihren Prinzipien vereinbaren konnte, sich mit einem Autor zu treffen, ohne vorher wenigstens einen Blick in seine Arbeit geworfen zu haben, hatte sie das Manuskript im Zug studiert. Es bestand vorerst aus drei Kapiteln sowie einer Zusammenfassung über den geplanten restlichen Inhalt. Da sie der Ansicht war, dass kein guter Lektor bei der ersten Lektüre Änderungen vornahm oder Kommentare an den Rand schrieb, verzichtete sie auf Notizen. Sie beabsichtigte ohnehin, das Ganze noch einmal mit dem Autor durchzugehen.
Trotz ihrer Vorbehalte in Bezug auf das Thema musste Frankie sich fast widerwillig eingestehen, dass das Buch sie faszinierte. Der Autor hatte Expeditionen zu vielen der gefährlichsten und unwirtlichsten Regionen der Erde geleitet und gab seine Erfahrungen auf kompetente und unsentimentale Weise wieder. Er verfügte nicht nur über einen guten Schreibstil, sondern besaß die seltene Fähigkeit, den Leser zu fesseln. Ein Schriftsteller hatte diese Fähigkeit oder auch nicht, und ihrer Meinung nach war es etwas, was man nicht lernen konnte. Außerdem verriet der Text einen düsteren, fast schwarzen Humor, den sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Erstaunen wahrnahm. Energisch rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie sich für diese Art von Abenteuer nicht interessierte.
Polarexpeditionen oder Versuche, den Pazifik mit dem Floß zu überqueren, waren ihrer Ansicht nach Zeit- und Geldverschwendung. Daher wusste sie kaum etwas über Julian Tarrant und vermochte sich nicht vorzustellen, wie er aussah. Im Geiste malte sie sich aus, dass er ein Polterfuß war, vermutlich einen gewaltigen Schnurrbart trug und mit einem Gewehr in der einen und zwei Jagdhunden an der anderen Hand herumlief. Das Problem war lediglich, dass sich dieses Bild nicht mit der Stimme vereinbaren ließ, die sie aus dem Manuskript herausgehört hatte.
Nun, da Frankie dem matschigen Pfad folgte, durchnässt war und fror und Cerne Farm noch immer nicht erblickte, waren ihr sowohl das Buch als auch der Autor ziemlich egal. Alles, was sie sich in diesem Moment wünschte, war, irgendwo im Warmen und Trockenen zu sitzen. Zur Hölle mit Julian Tarrant!, dachte sie. Ein Mensch, der freiwillig in diese gottverlassene Gegend gezogen war, konnte nicht ganz bei Verstand sein.
„Madam, ich weiß nicht, wohin Sie gehen, aber zufällig befinden Sie sich auf meinem Grund und Boden.“
Der bloße Klang einer menschlichen Stimme in dieser Umgebung ließ sie erstarren. Allmählich hatte sie angenommen, dass Dorset unbewohnt sei, und sich wie ein fremdes Wesen auf einem toten Planeten gefühlt. Sie hielt den Regenschirm nach wie vor tief gesenkt, sodass sie den Mann nicht einmal gesehen hatte, bevor er sprach. Vorsichtig hob sie den Schirm hoch und schaute zu dem Fremden auf.
Da sie selbst groß war, fühlte sie sich nicht so leicht von einem Mann eingeschüchtert. Der Fremde überragte sie jedoch um einiges und war obendrein kräftig gebaut. Er trug eine Cordhose, eine dreiviertellange gewachste grüne Jacke und eine schief sitzende Mütze. Außerdem hatte er etwas unter dem Arm, das sie nicht erkennen konnte, weil es von einer Plane bedeckt war. Ebenso kühl und unfreundlich, wie seine Stimme geklungen hatte, war sein Gesichtsausdruck. Der Mann war vermutlich nicht älter als vierzig, machte aber einen autoritären Eindruck.
Obwohl er der erste Mensch war, dem sie in dieser Einöde begegnete und der sie womöglich zu ihrem Ziel bringen konnte, wollte Frankie sich sein abweisendes Verhalten nicht gefallen lassen.
„Oh, tatsächlich? Man kann wohl kaum von unbefugtem Betreten sprechen, wenn man einen öffentlichen Weg benutzt“, entgegnete sie scharf.
Als er seine Last unter dem Arm unmerklich verlagerte, trat Frankie unwillkürlich einen Schritt zurück. Sogleich schämte sie sich für ihre Reaktion. Wer immer der Mann sein mochte –
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