Romana Extra Band 6
verabschieden.“ Sie stand auf. „Na los, worauf wartest du? Geh auf dein Zimmer und pack deine Sachen zusammen! Ich will keine Minute länger als unbedingt nötig hierbleiben!“
Fassungslos starrte Rosalie ihre Mutter an. Für sie brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Sie sollte weg von hier? Fort aus Laurins-les-Fleurs, ihrem Zuhause?
„Nein!“, rief sie verzweifelt. „Ich will bei grand-père bleiben!“
Doch Sandrine lachte nur. „Tut mir leid, Kleines, aber dein Großvater hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass du hier nicht länger erwünscht bist. Also komm, pack deinen Koffer, damit wir endlich von hier verschwinden können!“
„Ich bekam nicht einmal die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden“, schloss Rosalie ihre Schilderung. „Noch am selben Abend saßen wir im Flugzeug nach London. Die ganze Zeit über hoffte ich, dass mein Großvater kommen und die ganze Situation aufklären würde. Doch dazu kam es nie. Weder an diesem Tag noch an irgendeinem anderen in den vergangenen zehn Jahren.“ Sie hörte den bitteren Klang, den ihre Stimme angenommen hatte, konnte jedoch nichts dagegen tun. „Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.“ Fragend schaute sie Laurent an. „Kannst du dir vorstellen, wie das ist? Im Stich gelassen zu werden von dem Menschen, bei dem man bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr aufgewachsen ist?“
Laurent setzte den Blinker seines Autos, fuhr an den Straßenrand und hielt an.
„Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest“, sagte er, nachdem er den Motor abgestellt hatte. Er griff nach Rosalies Hand und drückte sie sanft. „Du hast deinen Großvater sehr geliebt, nicht wahr?“
„Ja, ich habe ihn geliebt – und manchmal, da habe ich ihn auch gehasst. Dafür, dass er mich einfach so meiner Mutter überlassen hat, obwohl er genau wusste, dass sie mit der Erziehung eines Kindes vollkommen überfordert war. Fortan wuchs ich in der Obhut ständig wechselnder Au-pair-Mädchen auf, während ich Sandrine nur dann und wann einmal zu Gesicht bekam. Ich will mich nicht beschweren. Materiell hat es mir nie an etwas gefehlt.“
Laurent rümpfte die Nase. „Es gibt wichtigere Dinge als Designerkleidung und teures Spielzeug.“ Er sah sie an. „Ein Kind braucht Liebe, Zuneigung und Anerkennung – und nichts davon hast du von deiner Mutter bekommen, oder?“
Tränen stiegen ihr in die Augen, sie konnte nichts dagegen tun. Sie war vollkommen durcheinander. Das war alles zu viel für sie. Hastig stieß sie die Beifahrertür auf und stieg aus. Die Arme um den Körper geschlungen, blieb sie mit dem Rücken zum Wagen stehen.
Felder säumten zu beiden Seiten die Straße, in einiger Entfernung erhob sich ein kleines Wäldchen, dessen sattes Grün mit dem strahlenden Blau des Himmels wetteiferte. Doch Rosalie hatte für solcherlei Dinge jetzt keinen Sinn. Auf keinen Fall wollte sie, dass Laurent bemerkte, wie aufgewühlt sie war – doch natürlich war es längst zu spät. Sie hörte, wie eine Tür geöffnet und gleich darauf wieder zugeworfen wurde; dann erklangen Schritte, und von hinten legten sich zwei Hände auf ihre Schultern.
„Es gibt absolut keinen Grund, dich für deine Gefühle zu schämen“, flüsterte er. Sein Gesicht war ihr so nah, dass sie seinen warmen Atem an ihrem Ohr spürte. Sogleich bekam sie eine Gänsehaut, und ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper.
Das war vollkommen absurd. Sie wollte nicht so für ihn empfinden. Eine Affäre mit einem Mann war das Letzte, was sie im Augenblick gebrauchen konnte. Und das galt im ganz besonderen Maße für Laurent Colbert.
Klopfenden Herzens drehte sie sich zu ihm um. Sie wollte ihm klarmachen, dass das mit ihnen nicht funktionieren würde – dass es nicht funktionieren konnte. Doch als sie ihm in die Augen blickte, war jeder gute Vorsatz vergessen, und sie schmolz förmlich dahin.
„Wir sollten nicht …“, flüsterte sie atemlos, brach aber ab, als seine Lippen sich auf ihre senkten.
Es war der zweite Kuss innerhalb kürzester Zeit, doch dieser hier ging ihr durch und durch. Ihr Herz hämmerte, und wie flüssiges Feuer rauschte das Blut heiß durch ihre Adern. Sie konnte nicht mehr klar denken, nicht mehr atmen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Wie von selbst schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken. Sie vergrub die Hände in seinem dichten Haar, und er umfasste ihre Hüfte und zog sie enger zu sich heran.
Sein männlicher Duft hüllte sie ein.
Rosalie wusste,
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