Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
das, worüber ich gerade geklagt habe, gehören dazu. Unsere Verwirrung macht uns besonders. Jeder möchte gern etwas Besonderes sein.
Ich finde, Deutschland erinnert an den amerikanischen Komiker Woody Allen. In Deutschland ist Woody Allen ja auch besonders beliebt und erfolgreicher als in seiner Heimat, jedenfalls bei dem gebildeten Publikum ab etwa fünfunddreißig Jahren. Es hat damit zu tun, dass sich auffällig viele mit ihrer deutschen Identität in Woody Allen wiedererkennen. Die Kunstfigur Woody – die natürlich etwas anderes ist als der reale Mensch, der sie spielt – redet viel und entscheidet sich ungern. Sie möchte immer alles ausdiskutieren. Sie ist hinund hergerissen zwischen Größenwahn und Selbstzweifel. Sie ist verwirrt. Sie nimmt ihre Talente als Selbstverständlichkeit hin, aber verzweifelt über ihre Defizite. Weil diese Figurnur zu gern in eine andere Haut schlüpfen möchte, sieht sie ungern in den Spiegel. Sie möchte auf jeden Fall anders sein, als sie ist, am besten das Gegenteil. Wenn sie sich entscheidet, zum Beispiel zwischen zwei Frauen, dann entscheidet sie sich viel zu spät, dann, wenn alle Züge abgefahren sind.
Etwas zu verkünden, es gleich danach ängstlich wieder zurückzunehmen, aufgeregt durcheinanderzureden, von einem Therapeuten zum anderen zu rennen, das ist typisch für die Personen in einem Woody-Allen-Film. Und natürlich das Selbstmitleid.
Der melancholische, romantische, grüblerische Wesenszug, der sich in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts so exzessiv äußert, hat sich in das moderne, zeitgenössische Selbstmitleid verwandelt, in ein unaufhörlich leise zirpendes Lamento. Als ich einer Diskussion über die Tagebücher von Joseph Goebbels zuhörte, sagte einer der Teilnehmer, dass ihn bei der Lektüre die »Mischung aus Brutalität und Wehleidigkeit« am meisten beeindruckt habe. Das ist die beste Definition der deutschen Nachtseite, die ich kenne. Goebbels ist zartfühlend, wenn es um ihn geht, und wird außerordentlich hart, wenn er von anderen spricht. Sein Mitleid spart er sich ganz für die eigene Person auf. Er ist anderen allerdings dankbar für Zuwendung und Lob, Schmeicheleien durchschaut er nicht. Er hat extreme Stimmungsschwankungen. Aber er leidet immer.
Etwas Ähnliches könnte man über Wilhelm II. sagen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs ist ein Beispiel für die Mischung aus Brutalität und Wehleidigkeit, die ihn und seine Leute umtreibt. Der Kronprinz von Österreich-Ungarn wird von Serben ermordet, zwischen Österreich und Serbien liegt Krieg in der Luft. Serbien ist mit Russland verbündet, das heißt, einregionaler Krieg würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem großen Konflikt ausweiten. In dieser Lage fragen die Österreicher bei ihren Verbündeten, den Deutschen, ob diese im Zweifelsfall sicher und treu an ihrer Seite stünden.
Ein geschickter Politiker hätte die kriegsgeilen Österreicher gebremst und hingehalten. Wilhelm II. aber leistet ihnen, mündlich, beim Kaffeetrinken, in nicht sehr konzentriertem Zustand, ohne Rücksprache mit seiner Regierung, einen überflüssigen Treueschwur: »Die volle Unterstützung Deutschlands ... in gewohnter Bundestreue.«
Anschließend fährt er nach Norwegen und ist auf seiner Vergnügungsreise nur schwer erreichbar, während der Kontinent sich in den Weltkrieg manövriert.
Bis dahin ist Wilhelms Verhalten dilettantisch, gefährlich, dumm, aber nicht bösartig. Er hält einem Verbündeten blind die Treue. Einige Tage später, inzwischen herrscht auch schon zwischen Frankreich und Deutschland der Kriegszustand, marschieren die deutschen Armeen in das neutrale Belgien ein, weil sie auf diese Weise der französischen Armee in den Rücken fallen können. Der Kaiser stellt dem König von Belgien vor dem Einmarsch pro forma ein Ultimatum. Er fordert, verbrämt mit vielen Worten, die Kapitulation. Der König von Belgien antwortet ihm fassungslos: »Die freundschaftlichen Gefühle, die ich Eurer Majestät gegenüber zum Ausdruck gebracht habe und deren Sie mich häufig versichert haben, ließen mich nicht einen Augenblick vermuten, dass Eure Majestät uns zu der grausamen Entscheidung zwingen würden, im Angesicht Europas zwischen Krieg und Ehrlosigkeit, zwischen Vertragstreue und Missachtung unserer internationalen Pflichten zu wählen. Albert.«
Der Überfall auf Belgien am 3. August 1914 ist der eigentlicheSündenfall des Deutschen Reiches bei der Entfesselung des Ersten
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