Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Einerseits Empörung und Alarmrufe, denn wenn wir unsere Gelassenheit den Skandalverursachern allzu auffällig zeigen, wird es zur Lawine, am Ende funktioniert gar nichts mehr. Etwas Ähnliches gilt für den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die es bei uns immer noch gibt, in ähnlichem Ausmaß wie bei den meisten unserer Nachbarvölker. Aber wenn es darum geht, eine Wette darüber abzuschließen, welches Land in den nächsten Jahrzehnten eine autoritäre, diktatorische, rassistische oder sonstwie bösartig aufgelegte Regierung bekommt – auf Deutschland käme man so ziemlich als Letztes. Ein entsprechender Bodensatz wäre vorhanden, seine Größe bleibt offenbar ziemlich konstant, aber es fehlt dem Bodensatz eine nennenswerte Unterstützung aus den Eliten.
Der Bodensatz braucht Führer. Führer gibt es bei uns nichtmehr, nicht einmal in der Variante Le Pen oder Haider. Regelmäßig entstehen in Deutschland rechtsradikale Parteien und haben kurz Erfolg, sie scheitern am Führerproblem. Ihre Führer sind korrupt oder unfähig, es sind alles Knallschoten. Für intelligente, charismatische junge Menschen in Deutschland ist das Berufsziel »Führer« vollkommen unattraktiv, es ist nicht sexy, da wird man, wenn man mit Volksmassen gut umgehen kann, doch tausendmal lieber Moderator bei RTL. Oder Popstar.
Wenn es 1920 schon Pop gegeben hätte, wäre uns der Zweite Weltkrieg erspart geblieben. Pop wirkt seit Jahrzehnten als Sozialisationsmodell und Aufstiegschance für gescheiterte, hasserfüllte Jugendliche ohne Schulabschluss, die andernfalls Kriminelle oder Politiker geworden wären. Hitler hat es als Kunstmaler probiert. Als Rapper in den 90er Jahren wäre er erfolgreich gewesen. Er hatte Talent. Seine Texte haben einen Touch von Eminem.
Mit meinem Sohn bin ich in London bei Madame Tussauds gewesen. Er wollte unbedingt ein Foto von sich mit Hitler. Ich wollte nicht, mir war das peinlich. Dann kamen jede Menge Engländer, Amerikaner, Franzosen, fast alle machten Fotos, in denen sie neben Hitler standen. Einige zeigten hinter Hitlers Kopf mit zwei gespreizten Fingern das Eselszeichen, andere hoben die Hand zum deutschen Gruß, wieder andere grinsten bloß. Bei Madame Tussauds ist Hitler das beliebteste Fotoobjekt, noch vor Elvis.
Ich bereute, dass ich nein gesagt hatte. Warum überhaupt? Wovor hatte ich Angst? Dass von der Wachspuppe geheime Kräfte ausgehen? Dass wir jemandes Gefühle verletzen? Es war eine instinktive Reaktion, eine Scheu, die in der Generation meines Sohnes, geboren 1991, nicht mehr vorhanden sein wird.
Lob der Armut
Warum ist Berlin eine großartige Stadt? Warum wollen wir hier leben und nirgendwo anders? Wer diese Frage stellt, zum Beispiel auf einer Party in Berlin-Mitte, wird ungefähr die folgenden Antworten erhalten: Die Kunstszene, die Kultur. Spannende Leute. Das Nachtleben. Wenn du rausfährst, bist du sofort im Grünen. Eine unglaublich grüne Stadt, überall Parks und Seen. Billige Wohnungen, wenn auch nicht mehr so billig wie früher. Überhaupt, du kannst in Berlin billig leben. Die Stadt ist offen, sie nimmt dich schnell auf, nach ein oder zwei Jahren ist es, als seist du schon immer hier gewesen. Dazu das Multikulturelle! Jeder Stadtteil ist anders. Und so weiter.
Alles, wirklich alles, was Berlin attraktiv macht, hängt damit zusammen, dass Berlin eine arme Stadt ist und es immer war. Diese Aussage gilt auch für das, was man »Natur« zu nennen sich angewöhnt hat. Das Umland ist grün und ländlich, weil Berlin in einer Gegend ohne nennenswerte Bodenschätze liegt, es gibt keinen mit London oder Paris vergleichbaren industriellen Speckgürtel, weil nach dem Mauerfall die Industrie und der Handel nicht nach Berlin zurückgekommen sind. Die Seen sind oft genug deshalb entstanden, weil in Berlin mit billigem Torf geheizt wurde. Die Parks gibt es deshalb, weil das Berliner Proletariat des 19. Jahrhunderts in dunklen Mietskasernen zusammengepfercht war und weilseine Herren kein Interesse daran hatten, dass ihr Proletariat ihnen nach kurzer Zeit verreckt. Dass die – immer noch – relativ billigen Wohnungen, die billig sind, weil Berlin arm ist, mit der »jungen, kreativen Szene« und der Multikultur zusammenhängen und diese wiederum mit dem Nachtleben, begreift man sofort.
Reiche Städte sind langweilig, weil sie nicht so viel Freiraum für Paradiesvögel und Neuankömmlinge bieten, sie schotten sich ab, weil sie etwas zu verlieren haben. Reiche Städte können sich
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