Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Titel: Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
Vom Netzwerk:
Experimente nicht leisten. Sie haben eine schlechtere Lebensqualität, allein schon wegen der teuren, kleinen Wohnungen. Deswegen sind sogar einige der härtesten Münchenfans aus München weggezogen (und veröffentlichen dann, in Berlin selbstverständlich, Anti-Berlin-Bücher), deswegen ist New York, wie mir Experten versichern, auf dem besten Weg dazu, langweilig zu werden. Vielleicht rettet die Wirtschaftskrise New York.
    Berlin ist nicht »arm, aber sexy«, wie der Regierende Bürgermeister es formuliert hat. Berlin ist sexy, weil es arm ist. Wer auf diesen Zusammenhang hinweist, von dem heißt es natürlich, er sei Zyniker. Und es ist ja wahr – so angenehm die Armut Berlins für diejenigen ist, die hier studieren oder ein Theater gründen oder einen Modeladen eröffnen wollen, so unangenehm ist die gleiche Armut für den Langzeitarbeitslosen, der sich im Wedding mit Hilfe von Hartz IV zu Tode trinkt ... nein, halt: Stimmt das denn? Der Arme ist nicht einsam in Berlin. Er steht nicht am Rand der Gesellschaft, sondern bildet eine ihrer tragenden Säulen. Der Arme findet in Berlin eine Infrastruktur aus billigen Kneipen, Wärmestuben, Armenrestaurants und Benefizveranstaltungen vor, darunter die alljährliche Weihnachtsparty für Arme, die der SängerFrank Zander ausrichtet. Ganze Stadtviertel gehören den Armen, dort muss sich zumindest keiner seiner Armut schämen. Es ist nicht schön, arm zu sein, aber auch für Arme ist Berlin eine angenehmere Stadt als München.
    Fast immer im Leben hat das Angenehme unangenehme Nebenwirkungen und umgekehrt. Fast immer musst du dich entscheiden. Du kannst kein Leben des Rausches führen und dabei hundert werden, du kannst nicht Kinder großziehen und dich an der Geborgenheit einer Familie erfreuen und gleichzeitig ein wildes Partyleben führen, du kannst nicht gleichzeitig einen Sportwagen und einen Campingbus fahren. Du kannst nicht in einer reichen Stadt leben, die »total spannend« und »wahnsinnig offen für Neues« ist.
    Nicht immer sind arme Städte angenehm. Sie müssen schon groß sein, groß genug, darin unterzutauchen, groß genug für Theater und Konzerte, groß genug für zwei oder drei Reichenviertel, denn ein paar Reiche muss es ja geben, damit nicht alles völlig herunterkommt, groß genug, um Sitz einer Regierung oder eines Fürsten zu sein, das bringt Renommee und sorgt dafür, dass die öffentlichen Einrichtungen – Straßen, Schulen – in ihrem Zustand nicht unter einen gewissen Mindeststandard sinken. Die Armut dagegen darf nicht zu groß sein, nicht wie in Accra oder in Kalkutta. Wo gehungert wird, wo man Lumpen trägt und in Pappkisten schläft, kann man die Armut nicht loben, man wird sie auch eher »Elend« nennen.
    Angenehm ist die Armut in Städten, wo es früher einmal bürgerlichen oder adligen Reichtum gab, mit der entsprechenden architektonischen Erbschaft. Dort, wo der Staat sich noch sorgt, wo er noch ein paar väterliche Gefühle für die Armen aufbringt, damit sie nicht gezwungen sind, zu raubenund zu morden, um an ihre Drogen zu kommen, dort, wo der Staat den Müll von den Straßen schafft und, ja, auch Polizisten bezahlt. Umweltkatastrophen  – die Luft in Mexiko City! – können arme Städte unerträglich machen. Eine gute arme Stadt liegt in einem reichen, funktionierenden Land, einem Land voller Gesetze, Traditionen und Prinzipien, die in der armen Stadt aber in ihrer Wirkung auf ein erträgliches Maß abgeschwächt werden, so dass die arme Stadt sich zwischen Ordnung und Chaos, Verfall und Aufbau im exakten Gleichgewicht befindet, ewig unterwegs, ohne zu wissen wohin, eine Baustelle, auf der meistens die Arbeit ruht, wie Berlin.
    In der armen Stadt wiegt der Makel des Scheiterns weniger schwer. Das ist menschlich an ihr. Wer hat schon Geld? Kaum jemand. Braucht man Geld? Nicht viel davon. Scheitern gibt es eigentlich nicht, wenn Armut ein Normalfall ist, der niemandem auffällt. Es gibt nur das Ausbleiben des Erfolges. In Berlin wird derjenige, den der Erfolg verlässt, in seinem Milieu nicht so leicht verstoßen. Außerhalb der dünnen, aus München oder Bonn importierten Oberschicht von Berlin ist es sehr einfach, auf einer Party, inmitten von höheren Staatsdienern und arrivierten Künstlern, jemanden zu treffen, der eigentlich gar nichts macht und trotzdem nicht mehr jung ist.
    Wer arm ist, stirbt früher, aber meist nicht an Hunger oder Kälte. Die Armen rauchen und trinken zu viel, man sagt: Sie haben sonst nichts vom

Weitere Kostenlose Bücher