Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
geworden.
Zwei Tage vor dem Termin hat das Tiefbauamt den Christen die Genehmigung für den Standort direkt am Hafen entzogen, ohne Begründung. Stattdessen müssen sie ihren Truck in der Bulgarischen Straße aufbauen, wo fast niemand hinkommt. Die Band »For Heaven’s Sake« aus Beverstedt spielt ihr Lied »Salz der Erde« im Grunde nur für sich selbst, und die Schüler der Edith-Stein-Schule zeigen ihre kleinen Tanz- und Theaternummern auch für sich selbst. Die Lehrer schicken einige Schülerinnen in das nahegelegene Ausflugslokal »Zenner«,wo zahlreiche Männer schon seit vielen Stunden ein großangelegtes Menschenexperiment veranstalten, nämlich, wie viel Bier in einen Berliner Mann hineinpasst und wann er umfällt und wie sich das im Detail anfühlt. Kurz vor der Kneipe ankert ein Schiff, auf dem eine aufblasbare Sexpuppe von Beate Uhse sitzt. Die Männer begrüßen die Schülerinnen mit großem Hallo.
»Sie wollen mit unseren Mädchen irgendwohin fahren«, sagt ein Lehrer. »Sie nötigen sie zum Biertrinken. Sie interessieren sich kein bisschen für unsere Inhalte.«
Und dann sagt er noch: »Das ist der Osten. Die wollen uns hier nicht.«
Der Kirchentag ist ein großes Fest, aber Feste geben vom Leben natürlich immer einen unrealistischen Eindruck. Wie geht es den Kirchen? Wenn man sich die Zahlen anschaut: nicht besonders. Die Erosion geht weiter. Sie hat sich lediglich ein bisschen verlangsamt. Aus der katholischen Kirche treten pro Jahr etwa 100 000 Menschen aus, in ihren schlechtesten Zeiten waren es aber 200 000. Der Anteil der Katholiken an der deutschen Bevölkerung ist seit 1965 von 44 Prozent auf 32 Prozent gesunken, nicht nur wegen der Wiedervereinigung. In den Gottesdienst gehen davon halbwegs regelmäßig 15 Prozent. Bei den Protestanten sehen die Zahlen ähnlich aus. Wenn man sich in die Statistik vertieft, fällt immerhin auf, dass die Zahl der Wiedereintritte seit Jahren steigt, bei den Katholiken auf fast 10 000 pro Jahr. Das macht den Kohl aber nicht fett.
Es gibt christliche Gruppen, die zurzeit auf einer riesigen Erfolgswelle surfen. Es sind die »Pfingstkirchen« der Dritten Welt. In Brasilien und in Afrika drücken sie die klassischen Kirchen und die islamische Konkurrenz allmählich an denRand. Die Pfingstkirchen scharen sich um selbsternannte, oft ziemlich dubiose Propheten und kümmern sich nicht um die offizielle Lehre. Ihr Rezept heißt Ekstase. Die Leute schreien »Jesus! Jesus!« bis zur Raserei.
Deutsche Christen haben immerhin oft lange Haare. Auch Fedor Pfistner trägt eine Mähne. Er ist Schiffspfarrer, zuständig für Berlin und Brandenburg. Von April bis in den Dezember, wenn das Treibeis kommt, fährt er mutterseelenallein mit seiner Sieben-Meter-Yacht durch die brandenburgischen Gewässer und verbreitet das Wort Gottes, auch über Funk. Er hat einen kleinen Bordaltar und eine Bordbibliothek. An Nikolaus trägt er ein Nikolauskostüm. Die Kirche hat die Stelle gestrichen, aber er arbeitet für Wartestandsbezüge einfach weiter. Pfarrer in den Wartestand zu versetzen ist bei der Kirche beliebt, weil man so den Tarifvertrag umgehen kann.
»Nebenbei«, sagt Pfarrer Pfistner, »arbeite ich übrigens als Schlagersänger. Unter dem Namen Marino. Ich singe: Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe, und solche Sachen.« Pfistner war ursprünglich kein Christ. Aber mit 20 ist ihm Gott erschienen, in einer katholischen Kirche in Görlitz. Er ist aber trotzdem evangelisch geworden, warum, wird nicht ganz klar. Vielleicht wegen des Zölibats. Jetzt steigt er in sein Schiff und fährt davon.
Sind die Kirchen womöglich zu vernünftig geworden? Zu wenig emotional, zu aufgeklärt, zu modern? Manche Leute behaupten das. Manche Leute sagen, dass die Kirchen eine radikale spirituelle Opposition zum Bestehenden darstellen müssten, um wieder attraktiv zu sein. Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini war ein großer Anwalt dieser Idee. Pasolini sagte: Wer soll die Tradition verteidigen gegen die übermächtige moderne Welt, wenn nicht die Kirche? Wenn dieKirche nicht mehr konservativ ist, hat sie keine Funktion mehr.
Inzwischen steht der Truck vor dem »FEZ«, dem Freizeitzentrum in der Wuhlheide, und es gibt schon wieder Probleme. Irgendwas mit der Anmeldung hat angeblich nicht geklappt, und erst nach einer Stunde intensiver Verhandlung mit den »FEZ«-Leuten darf die Bühne aufgebaut werden, wieder in einer abgelegenen Ecke, fast ohne Publikum.
Barbara
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