Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Leben. Stimmt das wirklich? Diese Aussage passt nicht zu der heimlichen Sehnsucht vieler Reicher. Die Armen sind fast überall auf der Welt für die Erfindung der Nationalgerichte, für die ekstatischen Feste und für die Popmusik zuständig. Nie werden die Reichen den Verdacht los, dass die armen Nichtstuer vielleicht das bessereLeben führen, ein manchmal kurzes, aber immerhin wildes Leben ohne Triebverzicht, ohne Disziplin, ohne Angst vor Abstieg und all die anderen Stimmungskiller. Zu den Standardwarnungen gehört der Satz, man dürfe die Armut nicht romantisieren. Dieser Satz wird deswegen so oft verwendet, weil die Versuchung, genau dies zu tun, groß ist.
Stadtsoziologen erklären, warum in fast jeder Stadt die Armut ein Durchgangsstadium ist, auf dem Weg eines Viertels in den Reichtum. Zuerst ist die Armut da, dann werden die billigen Wohnungen von der Boheme und der Jugend erobert, die das Viertel hübsch und unterhaltsam machen, am Ende kommt das Bürgertum, vertreibt die Boheme, übernimmt das Viertel und verwandelt es, wie Schwabing oder Prenzlauer Berg, in ein historisches Zitat, eine Kulisse, in der neue, reiche Bewohner die arme Vergangenheit des Viertels nachzuspielen versuchen. So funktioniert es fast überall. Aber Berlin ist zu groß, um jemals ganz übernommen zu werden. In Kreuzberg zum Beispiel herrscht seit Jahrzehnten ein stabiles Gleichgewicht zwischen Migranten, erfahrungshungriger Jugend und Post-68er-Bürgertum, keiner Gruppe gelingt es, Kreuzberg ganz für sich zu gewinnen. Das kann sich ändern, gewiss. Manche Gegenden sind reich geworden, wie Prenzlauer Berg, andere verarmen dafür, wie Teile von Reinickendorf oder Spandau. Unaufhörlich strömen Arme nach Berlin, Studenten, erfolglose Künstler, illegale Migranten, Abenteurer. Sie sind zu viele, die Reichen werden immer zu wenige sein. Berlin wird niemals reich sein, das heißt, wir ziehen nie weg.
Kirchentag
Boris Bauer aus Mannheim sagt: »Man ist schon irgendwie etwas Besonderes als Christ.« Er studiert an der Katholischen Journalistenschule in München, und jetzt moderiert er am Brandenburger Tor in Potsdam. »Unser Motto heute: Gerechtigkeit, Frieden und Toleranz.«
Es ist sehr heiß in Potsdam und ökumenischer Kirchentag. Schüler verteilen Zettel mit Bibelsprüchen, in Spiegelschrift. Man muss sie gegen den Himmel halten, um sie lesen zu können. Und sie verteilen die Kirchentagszeitung mit dem Bericht über den Auftritt des Kanzlers. »Der Kanzler ist immer noch ein Popstar. Schon sein Einzug war umjubelt.«
20 bis 30 Potsdamer sammeln sich vor der Bühne, hören »Sunrise« aus Chemnitz, wie sie singen: »Das tut gut, das macht Mut«, und schauen sich ein Schülertheater zum Thema Klonen an. Dabei spielt auch eine gewisse Rolle, dass die Bühne einen kräftigen Schatten wirft. Im Schatten ist es ja bei Hitze deutlich angenehmer als in der Sonne. »Ja«, sagt Boris Bauer, »so haben wir uns das vorgestellt. Jetzt läuft es endlich.«
Wie kriegt man die Kirche voll? Wie kommt man an die Leute heran? Der Pfarrer Hans Büsser hat eine todsichere Methode gefunden. Er bietet Gottesdienste im Ausflugsboot »Moby Dick« an, das wie ein Walfisch aussieht. 250 Leute! Immer volles Haus! Gott ist ein Hit! Nur, weil die Kirche ein Schiff ist?
»Na ja«, sagt Pfarrer Büsser, »Gottesdienstbesucher bekommen hinterher die Rundfahrt zum halben Preis.«
Es ist ihm ein bisschen peinlich. Aber man darf ja nicht lügen.
Pfarrer Büsser gehört ebenfalls zum Programm von »Kirche auf Achse«. Er steht am Treptower Hafen auf der Bühne und erzählt den Leuten von Moby Dick. »Auf Achse« besteht aus einem roten Truck, der während des Kirchentages kreuz und quer durch Berlin fährt, vor allem durch den Ostteil, und nach Potsdam. »Auf Achse« ist eine Begleitaktion wie das Fußballturnier »Popen Open« oder wie das Kabarett »Weißblaues Beffchen«, es soll etwas vom Geiste des Kirchentages in die große Heidenstadt Berlin tragen, und zwar mit Hilfe von Musik und Tanz und Interviews.
»Wir wollen niemanden missionieren«, sagt die Projektleiterin Barbara Tieves, die sich normalerweise im Auftrag der katholischen Kirche um Alleinerziehende kümmert. »Das ginge sowieso nicht. Wir wollen einfach nur Flagge zeigen. Die Leute sollen sehen, dass wir da sind. Dass es uns gibt.« Sie haben sogar einen aufblasbaren Heiligenschein, der an einer Leine über dem Wagen im Wind schaukelt. Er ist pink.
Die Kirche ist ziemlich bescheiden
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