Romeo für immer, Band 02
Körper und ein kleiner Rest ihrer Seele sind noch da. Jetzt ist nicht der richtige Moment, dem nachzutrauern, was ich verloren habe. »Bitte!«, flehe ich. »Komm mit. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Deine Eltern wären am Boden zerstört.«
»Meine … Eltern.« Sie erbleicht. »Also schön.«
Ich nicke und beginne erneut, die Treppe hochzusteigen. Hoffentlich haben wir nicht schon zu viel Zeit verloren. Ich konzentriere mich auf das Knarzen der Holzstufen unter meinen Ledersohlen und auf den Rauch, der langsam im Treppenhaus aufsteigt, und schiebe jeden Gedanken an meinen Verlust beiseite.
26
Ariel
D iesmal bin ich die schreiende Stimme, ich bin der Eindringling, den niemand hört.
Ich bin hier! Bitte! Lass mich raus! Ich bin hier, Romeo, bitte! Bitte …
Ich schreie verzweifelt, aber Romeo hört mich nicht. Auch Rosaline – dieses Mädchen, das in meinem Körper steckt und mit meinem Mund eine unverständliche Sprache spricht – nimmt mich nicht wahr. Ich dagegen höre und verstehe ihre Gedanken und spüre ihre Ängste. Sie fürchtet um ihr zerrissenes Kleid, um ihre Sittsamkeit und um ihren guten Ruf. Sie macht sich Sorgen, was ihr Vater sagen wird, wenn sie nach Hause kommt.
Ich kann ihre Gedanken hören, ich spüre, was sie empfindet, aber es sind nicht meine Gedanken und meine Gefühle. Es ist so ähnlich, als sei mir der Fuß eingeschlafen. Das stechende Kribbeln verhindert, dass der Impuls, den Fuß zu bewegen, vom Gehirn in die Tat umgesetzt wird. Ich bin mir zwar jeder Bewegung bewusst, fühle das Gehen, das Sprechen und auch Romeos Hand in meiner – die Empfindungen sind jedoch unvollständig. Als hätte ich meine fünf Sinne nicht richtig beisammen, als wäre ich nicht ganz da.
Ich bin nicht ich ; ich bin überhaupt nicht da. Ich bin ein Nichts . Ich bin nichts als ein Schrei in einem Menschen und kann nicht einmal …
Rosaline sagt etwas, und meine Hand schwebt zur Stirn. Zum ersten Mal spüre ich wirklich, wie sich meine Haut anfühlt. Ihre Finger … meine Finger … sind kalt und zittern, als sie sie an meine Schläfen presst. Sie fragt sich … Sie will …
Sie …
Sie ist nicht sie . Ich weiß, dass niemand diesen Gedanken verstehen würde, doch für mich ist er eine Offenbarung. Plötzlich greift eins ins andere: Mein Verstand, mein Körper und meine Seele sind wieder miteinander verbunden. Zwar bin ich immer noch nicht Herrin über meine fünf Sinne, aber ich bin zumindest ein Teil davon. Rosaline ist kein anderer Mensch; sie ist nur eine andere Version von … mir.
In der Tiefe unseres Seins sind Rosaline und ich ein und derselbe Mensch. Zu Rosaline hätte ich werden können, wenn ich in eine andere Zeit hineingeboren, anders aufgezogen worden wäre und andere Dinge gelernt hätte. Sie ist der Mensch, zu dem ich mich entwickelt hätte, wenn mein Vater da gewesen wäre und meine Mutter mich nicht ganz alleine hätte großziehen müssen. Wenn wir eine große Familie gehabt hätten, die uns geholfen und zur Seite gestanden hätte, wenn mein Gesicht nicht von heißem Öl verbrannt worden wäre und mich die anderen nicht dauernd angestarrt hätten wie den letzten Freak. Zu diesem Mädchen hätte ich werden können, wenn die Schreie in meinem Kopf nicht gewesen wären und mein Zorn und meine Ängste mich nicht zerfressen hätten. Das wäre aus mir geworden, wenn ich meine Tage damit verbracht hätte, über meine Liebe zu Gott nachzudenken, anstatt mit Romeo eine Liebe aus Fleisch und Blut zu erleben.
In gewisser Weise ist diese Vorstellung tröstlich. Es wäre jetzt ganz leicht, Ariel Dragland loszulassen und mich endgültig in Rosaline aufzulösen. Wie ein Schwamm würde sie mein Ich in sich aufnehmen. Es wäre kein Sterben, sondern nur … ein Vergessen. Genau das habe ich mir als Kind immer von meinem Therapeuten gewünscht. Vor unserer ersten Therapiestunde hatte ich gehofft, er könne meine bösen Gedanken einfach ausradieren, und ich wäre anschließend wieder normal. Ich war am Boden zerstört, als ich merkte, dass das niemals geschehen würde.
Aber jetzt könnte sich mein Wunsch erfüllen. Ich bräuchte nur loslassen, mich in die Tiefen von Rosalines Wesen hineinfallen lassen, und alles wäre vergessen. Als wären die schlimmen Dinge in meinem Leben nie passiert.
Noch vor einer Woche hätte dieser Gedanke mein Herz vor Freude höherschlagen lassen. Ohne Zögern hätte ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Aber jetzt … Ich bringe es nicht fertig. Denn dann
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