Romeo für immer, Band 02
mich … lässt Rosaline an der Wand zurück und hetzt zur nächsten hängenden Glocke. Fieberhaft versucht er, das Glockenseil mit dem Messer, das er in seiner Hand hält, durchzuschneiden. Er muss sich überlegt haben, an einem dieser Taue aus dem Turm zu entkommen. Aber woher hat er dieses Messer? Es kommt mir vor, als würde ich es aus meinen Träumen kennen. Die Schneide blitzt immer wieder auf, der tiefschwarze Griff ist im Dämmerlicht kaum zu sehen.
Ich kann auch Romeos Gesicht kaum erkennen. Das fahle Mondlicht, das durch die drei schmalen Maueröffnungen fällt, ist nicht hell genug. Aber ich sehe, dass seine schattenhafte Gestalt vor Anstrengung zittert. Ich höre, wie er verzweifelt flucht und keucht. Das Seil lässt sich nicht durchtrennen. Es ist zu spät. Sein Plan geht nicht auf.
Denn den Mann in der Kutte – den Mann aus meinen Albträumen – gibt es wirklich.
Er kommt gerade die Treppe hoch.
Romeo
W ie ich sehe, lebt sie immer noch.«
Der Mönch! Er ist schon da. Mir bleibt das Herz stehen. Ich habe versagt. Es hat zu lange gedauert, die Treppe hochzusteigen, noch dazu ist dieses verdammte Seil mit Harz oder Pech überzogen und lässt sich nicht durchtrennen.
»Keine Sorge, mein Junge«, sagt er in dem besänftigenden Tonfall, mit dem er mich jedes Mal weichklopft. Ich komme einfach nicht dagegen an. »Haut und Knochen durchsticht dieser Dolch wie nichts.«
»Zur Hölle mit dir!« Wütend werfe ich den Dolch durch die tunnelartige Öffnung in der Mitte des Glockenturms, hinunter in die Flammen, die bereits die Holzstufen hochzüngeln. Der Mönch hat es gerade noch unbeschadet hinaufgeschafft. Inzwischen ist das untere Drittel der Wendeltreppe bereits unpassierbar. Er wird sich den Dolch nicht zurückholen können.
Es ist vorbei. Weder ich noch sonst jemand wird je wieder für ihn töten. Stattdessen werde ich sterben. Auch Rosaline wird sterben müssen, ich werde es kaum verhindern können. Aber es ist besser, wenn sie durch die Hand eines Fremden stirbt, als langsam zu verbluten und währenddessen zu begreifen, dass der Freund, dem sie sich anvertraut hat, ihr Feind ist. Je weniger vertraut einem der Peiniger ist, desto eher ist die Qual zu ertragen.
Lügner! Qual bleibt Qual, und er wird euch beide quälen. Für sie wäre es besser, wenn du sie aus der Maueröffnung stößt .
Mit zitternden Fingern streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich stelle mir vor, wie ihre blauen Augen sich angesichts meiner Tücke vor Entsetzen weiten und wie sie während ihres Sturzes in die Tiefe hilflos mit Armen und Beinen rudert. Ich kann das nicht, es geht nicht, ich bringe es nicht fertig. Ich habe in meinem Dasein als Söldner zu viele Morde begangen, ich habe es bis obenhin satt. Ich kann niemanden mehr töten, auch nicht aus Mitleid.
»Komm her zu mir, Rosaline«, sagt der Mönch. Seine falsche Freundlichkeit verursacht mir Übelkeit. »Geh weg von Romeo.«
»Bruder Lorenzo?«, flüstert Rosaline. »Was ist denn? Warum … ?«
»Komm her zu mir. Bei mir bist du sicher.«
»Nein, Rosaline, nicht!« Ich lasse das Glockenseil los und stelle mich zwischen Rosaline und den Mönch. »Glaube ihm nicht, er lügt.«
»Hör nicht auf ihn, mein Kind. Der Junge ist verrückt geworden. Ich fürchte, er ist vom Teufel besessen.«
»Ich habe solche Angst, Bruder Lorenzo!«, schluchzt Rosaline.
»Komm her zu mir, mein liebes Kind. Bei mir findest du Frieden.«
»Frieden«, wiederholt sie. Während sie das Wort ausspricht, versagt ihr die Stimme, als gebe es nichts auf der Welt, was sie sich sehnlicher wünscht als Frieden. Er hat bereits Besitz von ihr ergriffen. Mit nur einem einzigen Wort, einem einzigen verdammten Wort!
»Ja, mein Kind. Du wirst deinen Frieden finden«, verspricht er.
Sie will einen Schritt nach vorne gehen, doch ich stoße sie mit ganzer Kraft zurück. Ich höre, wie sie mit dem Kopf gegen das Gemäuer schlägt, sie wimmert vor Schmerz und Angst, und ich begreife, dass ich einen Fehler gemacht habe. Jetzt wird sie mir nicht mehr vertrauen. Rosaline ist sehr fromm. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie mir mehr glaubt als dem Mönch. Jetzt habe ich ihr auch noch wehgetan …
»Sei vorsichtig«, sagt der Mönch besorgt. Er wirkt sehr vertrauenerweckend, selbst auf mich, obwohl ich doch genau weiß, wie verlogen er ist. »Romeo ist nicht er selbst. Er spricht mit falscher Zunge und … «
»Lass sie in Ruhe!«, rufe ich und versuche, mich gegen seine scheinheiligen Lügen zu
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