Romeo für immer, Band 02
wären nicht nur die schlimmen Erinnerungen verschwunden, sondern auch die schönen. Ich würde nicht wissen, wie sehr meine Mutter mich liebt, weil ich sie vergessen hätte. Auch an Gemma und an unsere schwierige und gleichzeitig wunderbare Freundschaft hätte ich keine Erinnerung mehr. Ich würde mich auch nicht mehr an Romeo erinnern. Ich wüsste nichts mehr von unserer Liebe, hätte vergessen, was er mir bedeutet und dass er mich so sehr liebt, dass er mir sogar Dinge verziehen hat, die eigentlich unverzeihlich sind. Ich würde ihm niemals sagen können, dass ich ihm ebenfalls vergeben habe, und er würde sein Leben lang diesen gequälten Ausdruck in seinen Augen behalten. Er steckt wieder in seinem eigenen Körper, doch seine Seele ist immer noch die, in die ich mich verliebt habe. Ich weiß , dass er es ist, so wie er weiß, dass dieses Mädchen an seiner Seite nicht ich bin.
Er denkt, ich sei nicht mehr da. Vielleicht glaubt er sogar, ich sei tot. Ich sehe es an seinem Blick. Ich merke es daran, wie er mir die Haare aus dem Gesicht streicht und mich anfleht: »Bitte geh weiter, bleib nicht stehen. Lass mich dich tragen, wenn du nicht gehen kannst. Uns bleibt keine Zeit mehr.«
»Ich … Ich kann nicht«, antwortet sie. Sie schaudert, als ich versuche, die dünne Wand, die sie und mich voneinander trennt, zu durchbrechen. Ich verstehe jetzt, was sie sagt, und stelle mir meine Lippenbewegungen vor, wenn ich diese Sprache spräche. »Ich … fühle mich nicht gut.«
Bitte. Lass mich raus, flehe ich. Er braucht mich doch! Und du brauchst mich auch.
Ich versuche, Stärke und Kraft in unseren gemeinsamen Körper fließen zu lassen. Sie soll keine Angst haben vor der Welt, dem Leben und dem Erwachsenwerden. Sie muss sich nicht im Kloster verstecken. Sie hätte andere Möglichkeiten. Würde sie den Mut dazu aufbringen, könnte sie die Welt entdecken, die sich außerhalb der Mauern ihres Elternhauses befindet. Sie könnte Verona verlassen und herausfinden, dass die Welt genauso beängstigend ist, wie sie befürchtet, gleichzeitig aber auch wunderschön und spannend. Im Leben geschieht zwar viel Schreckliches, aber es gibt doch auch Hoffnung und Schönheit und Kunst und Abenteuer und … Romeo.
Wenn sie den Mut dazu aufbringt, kann ich ihr eine ganz eigene Magie zeigen. Ich kann sie fühlen lassen, was ein menschliches Herz vermag, und sie die Höhen und Tiefen des Lebens spüren lassen. Wir könnten lachen, malen, spielen, tanzen und jede Sekunde mit dem Jungen, den wir lieben, genießen, auch wenn diese Momente noch so selten sein mögen.
»Ich habe Angst«, flüstert sie, und ich weiß, dass sie diese Worte nicht an Romeo richtet.
Diese Angst ist das einzige Gefühl, das du aufgeben solltest, sage ich leise. Warum sollte ich schreien? Die Wahrheit ist geflüstert nicht weniger wahr als geschrien.
Rosaline hat ihr Leben hinter einer Mauer aus Ängsten verbracht. Ihr Vater hatte Angst, sie könne die Familienehre durch unschickliches Verhalten verletzen. Ihre Mutter fürchtete sich davor, ihre einzige Tochter zu verlieren. Rosaline hatte so große Angst davor, ihr liebevolles Elternhaus zu verlassen, dass sie nie herausgefunden hat, wer sie ohne ihre Eltern eigentlich ist. Ich sehe die lieben Gesichter der Eltern in Rosalines Gedanken: einen Mann mit einem roten Bart, der eine Nuance dunkler schimmert als die Haare auf seinem Kopf. Und eine blonde Frau, die so blass ist wie meine Mutter. Aber sie ist nicht meine Mom.
Mom. Ich werde sie nie wiedersehen. Tief in mir weiß ich, dass es kein Zurück mehr gibt, selbst wenn wir das Feuer überleben sollten und ich wieder Herrin über meinen Körper wäre. Nie wieder werde ich die hilflosen Umarmungen meiner Mutter spüren, sie wird mich nie mehr in ihre Arme nehmen. Ich werde ihr niemals wieder sagen können, wie sehr ich sie liebe und dass es mir gut geht. Der Schmerz über diesen Verlust bricht mir das Herz. Meine Kraft schwindet und damit auch mein Einfluss auf Rosaline. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, werde ich von ihren Ängsten fortgespült.
Sie stößt mich zurück in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Ich spüre unseren gemeinsamen Körper nicht mehr. Ich kann nur noch mit ihren Augen sehen, dass wir jetzt hastig die Wendeltreppe erklimmen. Oben in der Turmspitze ist kaum Platz, um aufrecht zu stehen. In der Mitte des Raumes hängen drei uralte, rostige Glocken an dicken gelblichen Tauen, die mit etwas Klebrigem überzogen sind.
Romeo lässt
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