Romeo für immer, Band 02
geschafft, aus der Maueröffnung zu klettern. Doch das Seil baumelt einsam und verlassen herunter. Mein Pulsschlag beschleunigt sich. Wo ist sie? Was ist passiert? Ist sie etwa vom Rauch ohnmächtig geworden?
»Bitte!«, brülle ich so laut, dass Adolfo jetzt doch in meine Richtung schaut. Das könnte meine letzte Chance sein. »Rosaline ist im Glockenturm gefangen! Und Julia liegt lebendig begraben in der Gruft der Capulets. Ein schrecklicher Irrtum!« Ich gehe auf die Knie und flehe ihn an. Er muss mir glauben. »Fesselt mich und lasst mich hier liegen, aber ihr müsst … «
Ein Schrei gellt durch die Nacht, dann noch einer und noch einer. Ein Chor fassungsloser Männerstimmen hallt von der Kirchenmauer wider. Einige Männer haben sich Schaufeln aus dem Schuppen neben dem Friedhof geholt und versuchen, mit Erde das Feuer zu ersticken, das sich bereits bis zum Rasen ausgebreitet hat. In dem Moment, als ich zu ihnen hinüberschaue, lassen sie gerade erschrocken ihre Schaufeln fallen und weichen entsetzt vor einer Gestalt zurück, die über den Friedhof stolpert.
»Ein Geist!«, ruft einer. Aber er irrt sich.
Es ist Julia. Julia in ihrer ursprünglichen Gestalt. Sie hat es geschafft, aus ihrem Grab zu entkommen. Sie lebt! Ihr blaues Gewand ist verdreckt und zerdrückt, ihre langen braunen Haare fallen ihr in wirren, verfilzten Locken um die Schultern. Sie kann sich kaum aufrecht halten, so schwach ist sie. Aber sie lebt! Ich springe auf, will zu ihr, doch Adolfo tritt mir in den Brustkorb.
»Bitte!«, ächze ich. »Sie braucht Hilfe. Und Rosaline auch.« Ich drehe mich um und sehe zum Glockenturm hinauf. Mir wird übel, als ich sehe, dass die Maueröffnung immer noch leer ist. »Sie ist im Glockenturm gefangen und kann nicht heraus. Die Treppe steht in Flammen, Rosaline wird bei lebendigem Leib verbrennen, wenn wir sie nicht … «
»Bonfilio, Marzio!«, brüllt Adolfo. Zwei der Männer drehen sich um. Die Stimme ihres Anführers scheint wichtiger zu sein als der Anblick eines aus seinem Grab auferstandenen Mädchens. Adolfo zeigt zum Glockenturm. »Oben im Turm ist ein Mädchen eingesperrt. Ihr reitet und holt Leitern. Beeilt euch! Die anderen versuchen, das Feuer zu ersticken!« Er brüllt Namen und versucht das Chaos zu ordnen, indem er jedem Mann eine Aufgabe zuteilt.
Solange er abgelenkt ist, nutze ich die Gelegenheit und stürme über den Friedhof zu Julia. Bei ihrem Anblick werde ich von den widersprüchlichsten Gefühlen übermannt. Ich bin überglücklich, dass sie lebt, doch gleichzeitig werde ich zerfressen von Schuldgefühlen und Reue. Ich befürchte, ich muss ihr erneut das Herz brechen.
Wir sind verheiratet, und sie liebt mich. Ich bin ihr Seelenverwandter. Zumindest war ich es … bevor ich mich in eine andere verliebt habe.
Ich werde ihr von Ariel erzählen müssen. Nein … von Rosaline. Verdammt! Julia weiß, dass ich Rosaline den Hof gemacht habe, bevor wir uns begegnet sind. Das würde sie niemals verstehen. Sie wäre am Boden zerstört und würde sich betrogen fühlen. Aber die Wahrheit ist so ungeheuerlich, dass Julia mir niemals glauben wird. Dennoch muss ich ihr die Wahrheit sagen. Ich werde ihr alles beichten und darauf hoffen, dass sie mir glaubt und froh sein wird, mich los zu sein. Außer ihrer Amme und Bruder Lorenzo wusste niemand von unserer Heirat. Ihre Amme wird sie nicht verraten, und Bruder Lorenzo ist tot. Solange ich meinen Mund halte, bleibt ihr guter Ruf gewahrt.
Und ich werde schweigen. Ich will ihr nicht schaden. Ich wünsche ihr nur Gutes.
Ich liebe sie. Zwar nicht so wie früher …
Aber es ist immer noch Liebe, tief und aufrichtig. Ich bin unbeschreiblich froh und erleichtert, dass ihr nun das Schicksal erspart bleiben wird, das sie in einem anderen Leben durch meine Schuld erleiden musste. Beschwingt laufe ich auf sie zu und strecke meine Arme nach ihr aus. Ich will ihr helfen, sie in Sicherheit bringen und jemanden losschicken, um ihren Vater zu holen, während ich Ariel …
»Halt!« Zitternd hebt Julia die Hand. Im flackernden Licht der Flammen sieht ihr Blick wirr aus. Sie war immerhin fast vierundzwanzig Stunden lebendig begraben, vielleicht sogar länger.
Meine Freude verflüchtigt sich, und ich schäme mich. Womöglich hat sie Schaden genommen und ist nicht mehr bei Verstand. Dann hätte ich sie ein zweites Mal auf dem Gewissen.
»Julia.« Ich bleibe in einem Meter Entfernung vor ihr stehen. Sie schwankt, als würde sie jeden Moment umkippen. Am
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