Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Landschaft, an der engsten Stelle zwischen zwei fast senkrecht aufragenden Felshängen. Zwar gab es dort schon seit Jahrhunderten eine Garnison, aber Gebäude und Befestigung waren nicht dazu entworfen, der Feuerkraft neuzeitlicher Kanonen und Musketen zu widerstehen. Dem hatte man nun abhelfen müssen, und gleich nach ihrer Ankunft hatten sie damit begonnen, die schwachen Holzwände mit Steinmauern zu verkleiden.
Kundige Handwerker würden kommen und die Arbeit abschließen, hatte man ihnen gesagt, dann aber ließ sich niemand blicken. Jeder Mann im Land, der etwas von der Arbeit mit Steinen verstand, fand reichlich in den großen Städten zu tun, wo die Festungen mit zusätzlichem Strebewerk und weiteren Schutzwällen versehen wurden. Sie nahmen den Stein von bester Güte mit sich und errichteten daraus Wall auf Wall, wohingegen die Festungen in den Rand- und Grenzgebieten ungeschützt blieben.
Einen Arm oder ein Bein konnte man opfern, das Herz aber nicht. Gegen diese Logik war wenig einzuwenden, diejenigen aber, die so ein Gliedmaß darstellten, hatten schwer daran zu schlucken. Kumagai hatte nur mit der Zunge geschnalzt, doch statt zu warten, bis Tokugawa mit einem Feuerregen bei ihm vorstellig wurde, beschloss er, dass sie weitermachen und sich selbst die nötigen Baukünste beibringen würden. Er befahl seinen Männern, aus den umliegenden Felswänden passende Steine zu brechen, die sie dann so gut es ging um die Holzbohlen aufschichten würden.
Es war eine ziemliche Plackerei, und sie alle bekamen kräftige Muskeln davon, Bennosuke aber gefiel es. Wenn er eine Spitzhacke in der Hand hielt, musste er nicht nachdenken und konnte ganz in der Arbeit aufgehen. Das hatte etwas Reines an sich: Es zählte nur der nächste Schlag, es gab nichts, womit man sich beschäftigen musste – außer hartem Stein. Doch man konnte ja nicht ewig Steine kloppen, und wenn das Tagewerk vollbracht war, blieb immer noch die unangenehme Nähe der anderen.
Als er zu ihnen gestoßen war, hatten sie ihn zunächst wie einen kleinen Bruder behandelt. Sie hatten mit ihm gescherzt, ihm nette Spitznamen verpasst, ihn auch mal gepiesackt, in dem Versuch, irgendeine Art von Heiterkeit aus ihm hervorzulocken – doch vergebens.
Dann kam der Abend, an dem sie ihn das erste Mal zum Trinken angestiftet hatten. Er hatte gehustet und geprustet und den Sake und auch die stärkeren Spirituosen in sich hineingezwungen, weil sie es von ihm erwarteten, und ehe er wusste wie ihm geschah, weinte er und konnte nicht mehr damit aufhören. Ihm drehte sich alles, er jammerte unter Tränen der Scham, und die anderen Samurai saßen mit steinerner Miene dabei und schämten sich für ihn und für sich selbst. Ihm war es voll bewusst und unendlich peinlich, aber dennoch brachen die Schluchzer aus ihm hervor, denn im Grunde seines Herzens wusste er, dass er zwar lebte, aber eigentlich tot sein sollte. Doch unmöglich konnte er ihnen das erklären.
Sie hörten schließlich auf, ihn zu ihren Runden einzuladen. Aufs Neue wurde er zu einem Außenseiter, und obwohl er wusste, dass er es verdient hatte – diese Männer waren schließlich Samurai –, schmerzte ihn die Einsamkeit bis ins Mark. Wenn sie nicht gerade arbeiteten oder schliefen und ebenso, wenn die anderen Männer in all den Stunden, die man auf einen Feind wartete, der niemals kam, plaudernd beisammensaßen, verdrückte sich Bennosuke und übte sich allein im Schwertkampf.
Die Männer ließen ihm seine Marotten, keiner war interessiert genug, um herausfinden zu wollen, warum er sich so verhielt. Er gehorchte ihnen, und das war ihnen genug. Doch die Zeit wurde lang, und wie es bei Gruppen von Männern mit zu viel Müßiggang nun einmal so ist, begannen sie auf jede nur erdenkliche Weise, nach Zerstreuung zu suchen.
Eines frühen Abends, als die steinerne Mauer schon mannshoch aufgeschichtet war und die Sonne eben untergehen wollte, verzog sich der Junge gerade in die Ecke des Forts, die er als Dojo-Ersatz nutzte. Er war dort nicht außer Sicht, das war man in diesem Fort nirgends, aber doch so abseits, dass die anderen ihn übersehen konnten, wenn sie wollten.
Er übte gerade eine Abwehrtechnik gegen Stangenwaffen, als er merkte, dass er beobachtet wurde. Zwei Samurai standen einige Schritte entfernt, gesalzene Reisbällchen kauend.
«Das ist aber eine seltsame Methode», sagte einer der beiden, ein rangniederer Mann namens Goto. «Du hast uns nie erzählt, wo du ausgebildet wurdest,
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