Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
von allen anwesenden Fürsten über die größten Streitkräfte, jeweils nahezu zwanzigtausend Mann. Dementsprechend hielten sie in der Schlachtordnung auch die entscheidenden Positionen, Ukita in der Mitte und Kobayakawa auf der rechten Seite, während geringere Fürsten wie Shinmen, die einem der beiden verschworen waren, die Lücken dazwischen füllten.
Shinmen atmete hörbar ein und fuhr mit den Fingern über die Landkarte. Falls Kobayakawa die Seiten wechselte, konnte er seine Männer einfach wenden lassen und hätte in Minutenschnelle den Rest des Heers umstellt. Shinmen sah sich die Aufstellung der Streitkräfte an und wusste nicht, welcher Name ihm größere Sorgen machte: Tokugawa oder Kobayakawa.
Oder Ukita, fügte eine aufrichtige innere Stimme hinzu. Zwar hatte der große Fürst in den vergangenen Wochen keine Anzeichen gezeigt oder Absichten bekundet, Verrat zu üben – aber eine Verschwörung offenbarte man ja schließlich auch frühestens, wenn der Dolch schon im Rücken steckte, nicht wahr?
Shinmen empfand eine ungewohnte Machtlosigkeit. Er gebot zwar über Leben und Tod von Hunderten Männern, war hier aber nur eine Nebenfigur. In diesem Spiel ging es um das Schicksal von Millionen, das Schicksal einer ganzen Nation. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf alles gefasst zu machen. Der Fürst erhob sich, stellte sich breitbeinig hin und streckte die Arme aus, damit ihm seine Männer die Rüstung brachten. Sie huschten um ihn her, kleideten ihn in mehrere Schichten Leder, Tuch, Holz und Eisen und gingen dabei routiniert und mit kraftvollen Griffen zu Werke.
Zuletzt trat der junge Kazuteru mit dem Helm zu ihm. Er setzte ihn dem Fürsten auf und knotete das dicke, weiche Band unter dem Kinn zu. Shinmen sah ihn an und wurde mit einem Mal daran erinnert, welche Folgen sein Verständnis von Loyalität gezeitigt hatte. Wieder einmal kam ihm der Gedanke, dass Kazuteru, der damals den Enthauptungsschlag geführt hatte, so etwas wie ein Gefäß sei und etwas von
ihm
in dem nun vor ihm stehenden jungen Mann geborgen sei und ihn ansehe.
«Es tut mir leid», murmelte der Fürst.
Kazuteru guckte kurz verwirrt, doch ehe er sich entschuldigen konnte, wie die Etikette es verlangte, wenn man die Äußerung eines Höhergestellten nicht verstanden hatte, kam ein Bote herbeigeeilt.
«Hoheit! Befehle von unserem Herrn, dem höchst ehrenwerten Fürsten Ukita!»
* * *
«Wir rücken vor!», brüllte Marschall Fushimi. «Der Befehl ist da, Krieger des Westens! Der Tag ist gekommen! Eure Ahnen weinen vor Glück, dass ihr an einer solchen Schlacht teilnehmen dürft! Der Befehl, sich zu sammeln, wurde erteilt! Begebt euch auf eure Positionen!»
Der Marschall ritt oberhalb des Nebels am Hang entlang, schlängelte sich mit seinem Pferd zwischen den Gruppen der Männer hindurch, die sich im Laufe der Nacht, aus welchem Grund auch immer, hier heraufbegeben hatten. In Friedenszeiten diente er als Bewahrer des Gesetzes, und nun, im Krieg, hatte man ihm die Aufgabe anvertraut, Ordnung in dieses Heer zu bringen.
Er sah die Männer rings um sich her auf den Hängen, sie hockten da wie die Raben und schauten hinab auf die Welt. Viele sprachen mit seltsamen, scheußlichen Akzenten, die mit der einzig wahren Hochsprache, derer er sich bediente, wenig zu tun hatten. Manche dieser Männer stammten aus den fernsten Regionen Japans, von der Westspitze Honshus und den Südinseln Kyushu und Shikoku. Er verstand allenfalls jedes dritte Wort, das sie sprachen, und fragte sich, ob sie ihn umgekehrt ebenso schlecht verstanden.
Sämtliche Clans waren hier, eine landesweite Koalition, auf lediglich einer Quadratmeile Land zusammengezogen. Fushimi war empört: Diese Männer waren praktisch Ryukyuaner, Koreaner, Chinesen. Oh, dass er ausgerechnet an diesem Tag aller Tage an der Seite solcher Männer stehen musste!
Er ritt weiter, die Zügel in einer Hand, und fuhr sich mit der anderen gedankenverloren über die Rüstung. Vor ihm war sie von seinem Vater, seinem Großvater und seinem Urgroßvater getragen worden und hatte sich in Dutzenden Schlachten bewährt. Unter den Stickereien seines Brustharnisches ertastete er eine altbekannte Erhebung: eine Kerbe von einem Schwertstreich, die viele Jahre zuvor geflickt worden war. Man hatte sie mit geschmolzenem Metall ausgegossen, das sich seither ausgehärtet auf der gewölbten Bauchplatte wie eine geschwollene Ader anfühlte.
Fushimis Finger fuhren immer wieder darüber hin, über diese
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