Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Ader, diese Lebenslinie, und er fragte sich, welcher seiner Vorfahren diesen Hieb wohl abbekommen hatte und ob der nachfolgende Träger der Rüstung ebenso damit gespielt hatte wie er es jetzt tat, und ob sie ihm jetzt zusahen und ihn anfeuerten, als Bastion des Anstands inmitten all dieser Bastarde, Illoyalen und …
«Wir rücken vor!», brüllte er noch einmal, ehe seine Gedanken noch finsterer werden konnten, und hielt Ausschau nach ihm bekannten Gesichtern, nach den wenigen Leuten, denen er vertrauen konnte. «Auf eure Positionen! Vormarsch!»
* * *
Bennosuke sah zu, wie der Offizier an ihm vorüberritt, seine Befehle brüllte und seine Botschaft allen gegenüber wiederholte, die er fand. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er kam nicht drauf woher. Vielleicht war es nur die Verachtung in seinem Blick, die bei ihm Erinnerungen an Miyamoto wachrief. Doch er dachte nicht lange darüber nach, vielmehr erhob er sich und setzte sich den Helm auf, denn er hatte nun seine Befehle.
Das war es, was die beiden Jahre seit seinem Versagen ausgefüllt hatte: Befehle. Sie prägten das Leben eines Soldaten und hatten sein Leben so stumpfsinnig gemacht wie erhofft. Während er den anderen Männern den Hang hinab folgte, sah er noch einmal wehmütig über den Nebel hinweg, ehe ihn der Abstieg dieses friedlichen Anblicks beraubte. Er dachte erneut an die eleganten Flugbahnen des Falken: Kreisen, Kreisen, Aufschwung, Schweben am Scheitelpunkt – und dann hinab und außer Sicht.
Dann verschwand auch er: hinab in den Nebel und in den Krieg.
Irgendwo in der Ferne ertönte vom Nebel gedämpft ein Donnern. Vielleicht wurde eine Kanone abgefeuert – oder eine Reihe von Musketen. Worauf da geschossen wurde, konnte Bennosuke nicht wissen, doch als er weiter hinabstieg, war er plötzlich mittendrin in den fieberhaften Vorbereitungen, die der Nebel bis dahin vor seinen Augen verborgen hatte. Er ging auf schmalen Pfaden durch den Wald, die meisten Männer aber hatten wegen des Gedränges diese Pfade längst verlassen. Ihre geisterhaften Silhouetten huschten zwischen den Obelisken davon, zu denen die Baumstämme geworden waren, und schon nach zwanzig Schritten waren sie von Schwarz über Grau zu nichts verblasst.
Der allgegenwärtige Nebel und die gewundenen Pfade ließen Bilder aufblitzen, die sich sofort wieder auflösten: Männer rannten vorbei, in scheppernder Rüstung, andere brüllten grimmig, Einheiten fanden zusammen. Barrikaden aus angespitzten Bambusspeeren lagen schon bereit, die grünen Stämme doppelt mannslang. Ein Handwerker befiederte in verzweifelter Eile Pfeile, und hinter ihm mühte sich ein Mann damit ab, wartenden Arkebusieren ein Fass Schießpulver hinzurollen. Ein Samurai blickte mit steinerner Miene in einen Kupferspiegel und überprüfte, ob seine Kopfoberseite auch perfekt rasiert war, während ein Bursche sein Rasiermesser hielt. Ein kohlrabenschwarzer Hund zerrte knurrend und geifernd wie wild an seiner Kette.
Sämtliche Krieger hier waren Samurai, und daher trugen sie alle Schwerter, die aber an diesem Tag nur sekundäre Waffen waren. Jeder trug eine weitere Waffe bei sich, seien es nun Speere, Hellebarden oder Bögen, und war bereit, in Gefechtsaufstellung zu gehen und das schreckliche Spiel der Neutralisierung zu beginnen: Speerkämpfer gegen Kavallerie, Kavallerie gegen Geschosstruppen, die wiederum gegen Speerkämpfer.
Große Krieger waren zugegen, manche in prachtvollen Rüstungen, die ihnen das Aussehen kantiger Dämonen verliehen und die Munisais Harnisch in Miyamoto im Vergleich dazu erblassen ließen. Die meisten Männer aber konnten sich gerade einmal den grundlegendsten Schutz leisten: einen schlichten Brustharnisch, einen gedrungen kegelförmigen Eisenhelm, der unterm Kinn gebunden wurde, und ein zähes Untergewand aus Leder und Tuch, das Arme und Beine bedeckte. Einige besaßen nicht mal das, nachdem die Waffenkammern mancher Clans komplett geleert worden waren.
So überwältigend das alles auch war, bahnte sich Bennosuke doch einen Weg hindurch, nachdem er sich den Pfad am Tag zuvor gut eingeprägt hatte. Schließlich traf er auf Männer, die er kannte, die ersten der achtzig, die Kumagais Befehl unterstanden. Diese Samurai nickten ihm knapp und respektvoll zu, und er erwiderte den Gruß.
Auch nach zwei Jahren waren sie weiter nichts als Kampfgefährten.
* * *
Das Fort, in dem Bennosuke mit Kumagai und seinen Männern stationiert gewesen war, befand sich in einer öden, kargen
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