Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
rannte immer weiter, ohne einen Gedanken an seine Würde zu verschwenden oder auf seine Begleiter zu warten. Bennosuke rief ihm Ermunterungen zu, bot ihm Ratschläge an und wollte ihm die Richtung weisen, so als wüsste er, wohin es ging.
Dem Jungen dröhnte der Kopf, seine Platzwunde war mit jedem Herzschlag spürbar. Ihm war speiübel, und sein Bauch krampfte sich unter Schmerzen zusammen. Er wusste nicht, ob die plötzlichen Beschwerden von der Verletzung oder der Erschöpfung herrührten oder von dem, was nun greifbar nahe war. Das Leid dreier Jahre stieg in ihm auf, und was er spürte, war eine schreckliche Verwirrung und Unsicherheit.
Was hatte ihn dazu bewogen, sich zu dem Fürsten zu begeben? Diese Frage stellte er sich, während sie weiterliefen. Als er im Tal von Sekigahara in den Pferdeeingeweiden gesessen hatte, war ihm klargeworden – nein, es war ihm nicht klargeworden, sondern er hatte sich endlich eingestanden, was er im Grunde schon immer wusste –, dass man den Tod nicht verherrlichen soll.
Das war es. Das war alles. Es klang so klein und so banal. Aber das war es, wovon er sich befreit hatte. Er hätte gern gewusst, wer wohl der erste Mensch gewesen war, der einen Leichnam gesehen und ihn für etwas Göttliches erachtet hatte. Und wie hatte er andere dazu gebracht, es ebenso zu sehen?
Munisai, der Samurai, hatte den Tod gewählt, hatte aber die Schmach, die Hayato über ihn brachte, weder zu verhindern noch zu rächen vermocht. Shuntaro, der Bauer, hatte ebenfalls den Tod gewählt und konnte nicht verhindern, dass sein Sohn und seine Freunde sein Opfer verschmähten, indem sie die gleiche Wahl trafen wie er.
Nein, der Tod bestimmte nicht nur den Samurai, sondern alle Menschen – insofern, als sie anschließend nie mehr über sich selbst bestimmen konnten.
Doch Bennosuke hatte das Gemetzel gesehen und sich geschworen, dass er damit nichts mehr zu tun haben wollte; von nun an würde er selbst bestimmen, wer er war. Das Vermächtnis, das Munisai ihm auferlegt hatte, und die darauf folgende Schande – das kümmerte ihn nicht mehr. Er fand das nur noch obszön.
Und doch hatte er all das so schnell wieder vergessen. Als sich ihm die Gelegenheit bot, hatte er sie ergriffen.
Warum?
Wenn der Tod nicht verherrlicht werden sollte, sollte er ja sicherlich auch keinem anderen Menschen zugefügt werden. Das erschien nur logisch.
Hatte ihm die jahrelange Prägung seines Instinkts die Hand geführt? Er trug immer noch die Rüstung und Munisais Schwerter – hatte der Geist seines Vaters irgendeine Gewalt über ihn?
Nein, er hatte sich selbst dazu entschieden. Das zu bestreiten, wäre feige gewesen. Er hatte sich entschieden, das Schlachtfeld zu verlassen, und anschließend hatte er sich entschieden, nicht allein in den Wald zu fliehen, und deshalb war er jetzt hier.
Aber du kannst dich immer noch entscheiden, ihn gehen zu lassen. Lass das alles hinter dir zurück, kehre endlich heim nach Miyamoto und zu Dorinbo, lebe einfach nur für dich selbst …
Der Leibwächter lief mit rotem Gesicht hinter Hayato und Bennosuke her. Er war kein allzu beweglicher Mann, stolperte über verborgene Wurzeln und rutschte auf bemoosten Steinen aus. Bennosuke wartete auf einem umgestürzten Baumstamm auf ihn und hielt ihm eine Hand hin, um ihm hinüberzuhelfen.
Der Mann ergriff die Hand, doch statt sich hinaufzuschwingen, sah er Bennosuke forschend ins Gesicht. Nun erkannte er ihn plötzlich, blickte erstaunt drein und öffnete schon den Mund. Doch ehe er etwas sagen oder irgendeinen Laut von sich geben konnte, rammte ihm der Junge den Dolch, den er Jahre zuvor von Tasumi bekommen hatte, seitlich in den Hals.
Der Leibwächter gab noch ein verzweifeltes Glucksen von sich, und während er starb, fiel Bennosuke auf, dass seine Brandnarben alle ungefähr die Ausmaße kleiner Kohlenstückchen hatten.
«Was ist?», rief Hayato, der so weit voraus war, dass Bennosuke ihn kaum mehr sah.
«Pfeile, Hoheit! Ein Pfeil hat ihn erwischt! Lauft weiter! Schnell!», rief Bennosuke. «Sie sind ganz nah!»
Hayato jaulte auf und rannte weiter. Die geisterhaften Attentäter huschten in seiner Vorstellung wahrscheinlich schon wie Gebirgsdämonen rings um ihn her von Baum zu Baum.
Bennosuke ließ den Fürsten laufen und blieb noch einen Moment lang bei dem sterbenden Leibwächter. Als er tot war, lehnte er ihn sanft an den umgestürzten Baumstamm.
Dann folgte er dem Fürsten in gemäßigtem Tempo, ließ ihn dabei nie aus dem Blick.
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