Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
lang glaubte der Junge, er sei erkannt worden. Stattdessen aber hielt ihm der Mann gespannt ein Ohr entgegen.
«Ich möchte zu Fürst Hayato, Herr», flüsterte Bennosuke. «Ich habe einen Plan für seine Flucht. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen sofort aufbrechen.»
Der Mann mit den Brandnarben nickte. Er wirkte erleichtert und ließ Bennosuke zu Hayato vor. Der Junge kniete vor dem Fürsten nieder und hielt das Gesicht gesenkt.
«Hoheit», sagte er. «Wir müssen Euch hier wegbringen. Ich kenne einen Weg, der in Sicherheit führt.»
«Wir werden sterben», wisperte Hayato nur. Er schien nichts zu hören außer seinem eigenen verzweifelten Herzschlag, sein Kinn bibberte, und er vermochte den Blick nicht von den nahenden Reitern zu lösen. «Wir werden sterben.»
«Hört mir zu, Hoheit. Ich kann Euch retten. Ich kann Euch allein hier herausführen, auf einem geheimen Weg, aber Ihr müsst sofort mit mir kommen, durch den Wald hindurch.» Bennosuke wies den Hang hinab auf den dichten Wald, in dem er zuvor allein hatte verschwinden wollen. «Dorthin können keine Pferde vordringen, Hoheit.»
«Wer …», begann Hayato, und sein Blick huschte kurz zu Bennosuke hinüber, doch was auch immer er sagen wollte, wurde von einem Schrei und einem Getöse ganz in der Nähe unterbrochen.
Reiter waren aus einer anderen Richtung aufgetaucht, und jetzt bäumten sich ihre Rösser vor den Bambuspalisaden auf, und die Reiter johlten angesichts ihrer Entdeckung und schossen Pfeile in das kleine Feldlager der Nakata. Der einarmige Fürst wich entsetzt einen Schritt zurück.
«Wir müssen sofort hier weg, Hoheit!», drängte Bennosuke. «Euer Vater ist tot! Ihr seid jetzt das Haupt des Nakata-Clans! Lasst Eure Männer Euch dienen, indem sie zur Ablenkung ihr Leben hingeben, und kommt mit mir! Ihr müsst überleben! Das ist das Einzige, was zählt!»
«Er hat recht, Hoheit», sagte der Leibwächter.
Hayato sagte nichts mehr – er wandte sich nur um und lief in den dichten Wald. Er hatte nur gezögert, bis sein von Angst gelähmtes Hirn das Wort «Flucht» begriffen hatte. Ohne sich noch einmal umzublicken lief er los. Bennosuke und der Leibwächter nickten einander zu und folgten ihm in den Wald. Die zurückbleibenden Nakata waren angesichts ihres nahenden Untergangs so benommen, dass sie gar nichts davon bemerkten.
* * *
Fünf Minuten später regte sich im Feldlager nichts Burgunderrotes mehr. Leichen lagen herum, aus denen Pfeile ragten, und die Schlachtrösser der Tokugawa trotteten zwischen ihnen herum. Der Haupttross der Kavallerie war bereits weitergeritten, es gab noch viele Flüchtlinge und Fürsten zur Strecke zu bringen, aber einige wenige Reiter waren zurückgeblieben, um das Lager nach Wertsachen abzusuchen. Zwei Männer sahen aus dem Sattel zu Nakatas Banner hinauf.
«Das ist doch hübsch», sagte der eine und betrachtete anerkennend die kunstvoll vergoldete Zierde an der Spitze. Er zog sich den Handschuh aus und ergriff das Bannertuch zwischen Daumen und Zeigefinger. «Sehr schön. Was sollen wir damit machen?»
«Verbrennen, lautet der Befehl», erwiderte der andere. «Die Hügel sollen mit Blut getränkt sein, der Himmel mit Rauch verhangen und so weiter.»
«Schade», sagte der erste und zog sich den Handschuh wieder an. «Meine Tochter heiratet bald. Und meine Frau braucht ein neues Kleid. Das hier sind einige Meter feinste Seide.»
«Du würdest deine Frau etwas tragen lassen, das du auf einem Schlachtfeld erbeutet hast?»
«Ich muss ihr ja nicht erzählen, woher es stammt.»
«Barbarische Sitte.» Der andere schüttelte verächtlich den Kopf.
Ein Feuer wurde entfacht und eine Laterne an das Banner gehalten, bis es in Flammen aufging, und als die Männer sicher waren, dass es sich nicht mehr löschen ließ, ritten sie weiter. Die Standarte brannte noch ein paar Minuten lang vor sich hin, bis sie schließlich inmitten der Toten, die man zurückgelassen hatte, in sich zusammensank. Und damit endete in den Augen der Welt der Clan der Nakata.
* * *
Es war eine Wildnis, durch die sie liefen, sich über unwegsamen Grund einen Weg zwischen Bäumen hindurch bahnend. Der Herbst war noch nicht überallhin vorgedrungen, und vereinzelt sah man inmitten der Goldtöne noch grünes Laub. Ein Rehbock erstarrte, als sie vorüberhuschten, und starrte sie aus großen schwarzen Augen an.
Langsam verklang das Getöse hinter ihnen. Hayato blickte sich nicht um; er war einfach nur entschlossen zu fliehen und
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