Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Täglich wird von ihm Aufruhr gepredigt. Außerdem reist die Rosa Luxemburg
in Deutschland umher und hält aufrührerische Reden. Vor kurzem hat sie Hamburg unsicher gemacht. Darauf hat sie sogar in der
Reichshauptstadt vor einer großen Versammlung gesprochen und unter frenetischem Beifall aufgefordert, es den russischen Revolutionären
nachzumachen. Dabei hat sie eingestanden, daß die russischen Revolutionsmacher in innigster Fühlung mit der deutschen Sozialdemokratie
handeln. In der staatserhaltenden Bevölkerung versteht man die Duldung solcher Aufruhrreden nicht. Man fürchtet ernste Gefahren.
Gewährt das Gesetz keine Handhaben gegen dieses Treiben in Versammlungen und Zeitungen, so sollte man sie schaffen. Aber vor
allem die Frage: Weshalb läßt man die Aufruhr predigende galizische Jüdin im Lande? Man spediere diese Person doch dahin,
woher sie gekommen ist, nach dem ›in Freiheit‹ schwelgenden Rußland!« 51 Rosa Luxemburg überging solche Anfeindungen mit Gelassenheit und Verachtung.
Ich lebe am fröhlichsten im Sturm
Im August 1905 war in Rußland das Bulyginsche Verfassungsprojekt gesetzlich festgeschrieben worden. Es sah u.a. eine Duma
vor, die nur beratende Funktion erhalten und über ein indirektes, völlig undemokratisches Wahlsystem zustande kommen sollte.
Vom 20. bis 22. September 1905 fand deshalb eine von den Bolschewiki einberufene Konferenz statt, auf der sich russische,
polnische, lettische und ukrainische Sozialdemokraten und der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund für den |235| Boykott der Bulyginschen Duma aussprachen und sich über die weitere Taktik verständigen wollten. Für die SDKPiL nahmen Leo
Jogiches und Adolf Warski teil. Rosa Luxemburg äußerte in ihrem Artikel »Auf zum Kampf gegen die ›Konstitution‹ der Knute!«
der in »Z pola walki« vom 18. Oktober erschien, ihre Zustimmung zu diesem Boykott und rief gegen die »Konstitutionskomödie«
zum Kampf durch Massenaufklärung auf, kritisierte allerdings die Aufforderung in der Resolution, »den bewaffneten Aufstand
des Volkes« vorzubereiten. Sie hielt nichts vom »Geschwätz über die Bewaffnung der Massen, über Beschaffung von Waffen und
über die Organisation von Kampfgruppen«, da die Volksrevolution per definitionem ein Akt der Massen sei und die Haltung der
Massen über ihren Verlauf entscheiden würde und nicht die technische Vorbereitung bewaffneter Aktionen. 52 Gegenüber Leo Jogiches begründete sie: »Die Stelle, wo gesagt wird, was es bedeutet, ›einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten‹,
habe ich absichtlich geschrieben, damit wir nicht wie die
Schildknappen
Lenins aussehen, der das der Beteiligung an der Duma entgegenstellt und darunter einfach die Bewaffnung versteht. Aus diesem
Grunde war es mir sogar unangenehm, daß Du diesen Passus in die Resolution aufgenommen hast, denn sie bekam dadurch eine kleine
Färbung von ›Bolschewismus‹.« 53 Viel hätte nicht gefehlt, schrieb sie einige Jahre später im Rückblick auf 1905 über Lenins Anhänger und deren Idee vom bewaffneten
Aufstand, »und sie hätten ›Dreier-‹ und ›Fünfergruppen‹, kleine bewaffnete Abteilungen, aufgestellt und ›Kampf‹-Übungen abgehalten« 54 .
Über den Boykott der Bulyginschen Duma geriet sie auch mit Parvus in Streit, der auf dem Weg nach Petersburg war und plötzlich
in Rußland alles »legalisieren« wollte. Auf Karl Kautskys Geburtstagsfeier entwickelte sich mit Bebel und Kautsky ebenfalls
ein heftiger Disput. »Wie kenne ich meine
Pappenheimer
?«, schrieb sie Leo am 17. Oktober. »Gestern abend hat mir August gestanden, daß er für eine Beteiligung an den Wahlen zur
Duma ist (sicher hat ihm Adler eingeheizt), und fängt einen Streit mit mir an. Und mein Karolus? Wenn auch schüchtern zwar,
aber immerhin, er muß ihm gleich beipflichten. Das hat mich etwas aufgebracht. NB, August warf |236| mir (aber sehr freundschaftlich)
Ultraradikalismus
vor und rief:
›Paßt auf, wenn die Revolution in Deutschland kommt, dann steht die Rosa auf der linken Seite und ich auf der rechten!‹
Worauf er scherzhaft hinzufügte:
›Aber wir hängen sie auf, wir lassen uns nicht von ihr die Suppe versalzen.‹
Darauf ich ganz ruhig:
›Sie wissen ja noch nicht, wer wen dann aufhängen wird.‹
Bezeichnend.« 55
Mit umfangreichen Streiks in allen Industriezentren Rußlands und Bauernerhebungen in bisher unbekanntem Ausmaß trieb die Revolution
im Oktober 1905 einem neuen
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