Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
müsse sie viel
an Kautskys, Mehrings, Bebels, Wurms, an Paul Singer und Arthur Stadthagen und an die Mitarbeiter im »Vorwärts« denken. 62
Immer wieder kam sie auch auf den geplanten Parteitag der SDAPR zu sprechen, der schließlich vom 23. April bis 8. Mai 1906
in Stockholm stattfinden sollte. Sie wollte daran teilnehmen, weil er sowohl für den Fortgang der Revolution als auch für
die Beziehungen zwischen der SDKPiL und der SDAPR wichtig war. Sie müsse dort über das unbeschreibliche »Chaos in der Organisation,
Fraktionskrach trotz aller Einigung und allgemeine Depression« innerhalb der SDAPR mitreden und auch mitstreiten können, äußerte
sie vertraulich gegenüber Kautskys. 63 Während der Revolution hatten nach Meinung Rosa Luxemburgs Parteizwistigkeiten in den Hintergrund zu treten. Ein viel wunderer
Punkt sei doch die kolossale Arbeitslosigkeit, die ein unbeschreibliches Elend verbreitete. Die Arbeitslosigkeit sei die offene
Wunde der Revolution, »und kein Mittel, ihr zu steuern! Dabei entwickelt sich aber ein stiller Heroismus und ein Klassengefühl
der Massen, die ich den lieben Deutschen gerne zeigen möchte. Die Arbeiter treffen allenthalben von selbst solche Arrangements,
daß z. B. die Beschäftigten ständig einen Tageslohn in der Woche für die Arbeitslosen abgeben.« 64 Völlig anders empfand sie die Situation in Petersburg, wo die Parteiarbeit wieder ganz »unterirdisch« geworden sei und die
Bewegung stoppe.
Dennoch zeichnete Rosa Luxemburg grundsätzlich ein positives Bild der russischen Revolution – auch, um das Interesse der deutschen
Genossen aufrechtzuerhalten: »In allen Fabriken haben sich ›von selbst‹ Ausschüsse, gewählt von den Arbeitern, gebildet, die
über alle Arbeitsbedingungen, über Aufnahme und Entlassung von Arbeitern etc. entscheiden. Der Unternehmer hat tatsächlich
aufgehört, ›Herr im Hause‹ zu sein. […] Freilich wird das alles nach der Revolution und der Wiederkehr der ›normalen Verhältnisse‹
wahrscheinlich sehr anders werden. Aber spurlos werden diese Zustände nicht vorübergehen. […] Und dies alles sieht man im
Auslande nicht! Man denkt, der Kampf habe aufgehört, weil er in die Tiefe gegangen |241| ist. Und gleichzeitig schreitet die Organisation unermüdlich fort. Trotz Kriegszustand werden Gewerkschaften von der Sozialdemokratie
fleißig ausgebaut – in aller Form: mit gedruckten Mitgliedsbüchlein, Marken, Statuten, regelmäßigen Versammlungen etc. Man
führt die Arbeit ganz, wie wenn die politische Freiheit bereits da wäre. Und die Polizei ist natürlich machtlos gegen diese
Massenbewegung.« 65
Von Karl Kautsky, Franz Mehring u. a. erbat Rosa Luxemburg Artikel für die polnischen Publikationsorgane, damit die Erfahrungen
der deutschen Arbeiterbewegung, besonders in Fragen der Organisation und des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaften,
für die jungen polnischen Arbeiterorganisationen nutzbar gemacht werden konnten. Unter Kreuzband sollten ihr außerdem an unverfängliche
Redaktionsadressen polnischer Zeitungen Ausgaben des »Vorwärts«, der »Leipziger Volkszeitung«, des »Correspondenzblattes der
Generalkommission der Gewerkschaften« und der »Sozialen Praxis« gesandt werden. Sie bat Luise Kautsky, das etwa 116 Blatt
starke Manuskript »Der polnische und der russische Sozialismus in ihren gegenseitigen Beziehungen« aus ihrer Wohnung zu holen
und an sie zu schicken. Die Korrespondenz sollte über die Adresse des unter dem Pseudonym Stanislaw Turski wirkenden Funktionärs
der SDKPiL Dr. Jakub Goldenberg, Wierzbowa 9, laufen.
Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen konnte nicht verhindert werden, daß Rosa Luxemburg am Vorabend ihres 35. Geburtstages
zusammen mit Leo Jogiches in der Pension der Gräfin Walewska verhaftet wurde. Sämtliche Papiere, Manuskripte, viele Briefe
und auch die Pässe wurden beschlagnahmt. Im geheimen Bericht des Warschauer Chefs der Abteilung zum Schutz der Ordnung und
der öffentlichen Sicherheit vom März 1906 wurden sie beschuldigt, Mitglieder der illegalen sozialdemokratischen Partei zu
sein, im Weichselgebiet Agrarunruhen anstiften zu wollen und die beschlagnahmte Geheimdruckerei der SDKPiL ausgestattet zu
haben. Beide kamen erst einmal in das Arretierungshaus beim Rathaus am Theaterplatz.
Die Verhaftung war umso niederschmetternder, als Rosa Luxemburg ihre Abreise aus Warschau bereits vorbereitet hatte, |242| da ihre Tätigkeit
Weitere Kostenlose Bücher