Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Höhepunkt zu. Der Zar sah sich gezwungen, das Bulyginsche Projekt fallenzulassen und am 30. Oktober
ein Manifest zu veröffentlichen, in dem er einige bürgerlich-demokratische Rechte und die Einberufung einer gesetzgebenden
Duma versprach. Er hoffte, die Revolution damit abwürgen zu können. In ihren Artikeln »Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus
des Letzten« und »Das Pulver trocken, das Schwert geschliffen«, die am 1. und 2. November 1905 im »Vorwärts« erschienen, enthüllte
Rosa Luxemburg daraufhin die verfänglichen Absichten der Konterrevolution, die mit einer Amnestie für politische Gefangene
obendrein zu täuschen suchte.
Um aktiv am Geschehen in Rußland teilnehmen zu können, kehrten in den folgenden Wochen mehr und mehr Emigranten aus der Schweiz,
aus Frankreich, England und anderen Staaten in ihre Heimat zurück. Nicht wenige nahmen ihren Weg über Berlin. Wie Parvus besuchten
die meisten ihrer russischen Freunde, so Martow, Potressow, Wera Sassulitsch, Rosa Luxemburg, ehe sie nach Rußland weiterfuhren.
Und jedesmal vergrößerte sich ihre Sehnsucht nach Warschau und nach dem Geliebten. Leo Jogiches hatte für Ende Oktober einen
kurzen Besuch in Berlin geplant und sogar bereits die Fahrkarte besorgt. In freudiger Erwartung ließ Rosa Luxemburg die Wohnung
und vor allem sein Zimmer herrichten, damit Leo es so behaglich wie möglich habe, doch sie wartete vergeblich. Zu viele Verpflichtungen
in Warschau und Krakau hielten ihn von der Reise ab. Um so mehr beneidete Rosa Luxemburg nun die heimreisenden Revolutionäre.
Lieber wollte auch sie die Erschwernisse und Gefahren einer solchen Rückkehr ins Land auf sich nehmen, als in dem »Elend und
Geschwätz im ›Vorwärts‹« zu verkümmern. 56
|237| Wenngleich Rosa Luxemburg in Berlin und in der deutschen Sozialdemokratie vollauf beschäftigt war, bewegten sie die Vorgänge
in der polnischen Arbeiterbewegung zu dieser Zeit weit mehr. Sie wehrte sich gegen Leo Jogiches, der ihre beiden Betätigungsfelder
neuerdings voneinander abgrenzen wollte, und bat ihn, »nicht so kindisch zu sein und mich nicht
gewaltsam
von der polnischen Arbeit abzuschirmen in der Art, daß Du mich über nichts mehr informieren willst« 57 . Aus Liebe und Sorge um ihre Gesundheit wollte er sie schonen; sie sollte sich voll auf die anspruchsvolle und aufreibende
Arbeit für den »Vorwärts« und Beiträge für die polnische Presse konzentrieren können. Rosa Luxemburg jedoch haßte es, wenn
andere über sie entschieden. Sie reagierte gekränkt: »Aber Du mußt eine Kopfwäsche bekommen, und zwar eine ordentliche. […]
Hals über Kopf herumzuschmieren, dazu bin ich gut, aber zu wissen, was los ist, das ist nichts mehr für mich. Eine alte Geschichte
übrigens.« 58 Sie wurde immer unzufriedener und begann schließlich, die Reise ins Land selbst zu organisieren. Obwohl ihre polnischen Gefährten
zunächst große Bedenken hatten, schrieb Jakub Hanecki, »waren wir, polnische, aber auch deutsche Sozialdemokraten, letzten
Endes einverstanden damit, daß Rosa Luxemburg ›für kurze Zeit‹ nach Polen fuhr. Ich erinnere mich, wie vor ihrer Abreise August
Bebel sich aufregte. Er gab ihr verschiedene Instruktionen, Geleitworte, Ratschläge. Ins polnische Zentralkomitee schickte
er strenge kameradschaftliche Anweisungen, ›unsere liebe Rosa‹ mit allen möglichen Mitteln zu schonen und alle Maßnahmen zu
ergreifen, damit sie nicht in die Hände der Gendarmen fällt.« 59
Am 28. Dezember 1905 war es soweit. Rosa Luxemburg wurde auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße von der Familie Kautsky
verabschiedet. Nur die engsten Freunde kannten ihr Vorhaben. Sie reiste als Korrespondentin des »Vorwärts« unter dem Namen
der Berliner Sozialdemokratin Anna Matschke, die ihren Paß am 8. Dezember im Polizeipräsidium erhalten und unmittelbar danach
vom russischen Generalkonsulat das Einreisevisum eingeholt hatte. Auf Umwegen über Alexandrow, Thorn, Illowo in Ostpreußen
und Mlawa erreichte Rosa Luxemburg nach strapaziöser Fahrt am 29. Dezember Warschau. Aus Illowo, als unklar war, wie es weitergehen
sollte, |238| gab sie an Kautskys einen kurzen Zwischenbericht. Am 30. Dezember teilte sie ihnen durch einen Kartengruß mit, daß sie in
einem von Militär geführten, ungeheizten und unbeleuchteten Zug am Vortage glücklich am Ziel angekommen sei. »Die Stadt ist
wie ausgestorben, Generalstreik, Soldaten auf Schritt und Tritt.
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