Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
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alles wird sich schon finden; Hauptsache: ruhig Blut, völlig korrektes Betragen und gediegene Leistung auf den ersten Schuß.
Mißverstehe mich nicht,
wenn ich von einem
›Provisorium‹
spreche, so meine ich nicht Monate, sondern höchstens ein paar Wochen.« 46 Am 28. Oktober lag eine Visitenkarte Karl Kautskys mit folgendem Text auf ihrem Tisch: »Liebe Róża, also morgen nimmt das
Interregnum ein Ende, und Du bist als Mitarbeiterin feierlich eingeladen, d. h. offiziell, in der neuen Redaktion mitzutun.
Erste Pflicht: Du hast morgen, sonntags, Punkt 10 Uhr Vorm[ittag] zu der Redaktionssitzung zu erscheinen, die alles weitere
regelt. Für Dienstag wird ein Artikel von Dir erwartet. Alles andere mach mit dem Menschinstwo selbst ab. Es lebe die Revolution
an allen Ecken und Enden! Dein K. K.« 47
Rosa Luxemburg war in Hochstimmung, betrachtete die Situation als einen Sieg und stellte sich vor, wie Vollmar, Heine, David
u. a. ohnmächtig mit den Zähnen knirschten. Absprachen in der Redaktion am 29. Oktober ergaben, daß sich der seit 1893 im
»Vorwärts« tätige und Rosa Luxemburg gut bekannte Arthur Stadthagen um Fragen der Arbeiterversicherung und das Kommunale,
Georg Davidsohn, ein 1905 neu eingestellter Mitarbeiter, um die Auslandsnachrichten, Wilhelm Düwell aus Essen, bisher Redakteur
an der Dortmunder »Arbeiter-Zeitung«, um die Parteinachrichten und die Frauenbewegung kümmern sollten. Julian Marchlewski
übernahm statt des ursprünglich vorgesehenen Heinrich Cunow die Wirtschaftliche Rundschau.
Natürlich war die neue Aufgabe wesentlich arbeitsaufwendiger |233| als angenommen. Seit 31. Oktober war Rosa Luxemburg fürs erste täglich in der Redaktion beschäftigt, und zwar ab 4 Uhr nachmittags.
»Es erweist sich –
der Karren steckt im Dreck
, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland
bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland. […] Mein Artikel hat heute allgemein gefallen. Aujust
[Bebel], der Ärmste, rennt ebenfalls jeden Abend in der Redaktion herum, aufgeregt und unzufrieden mit unseren Ochsen. Ich
muß helfen, was das Zeug hält.« 48
Das Arbeitspensum steigerte sich, als sie im November auch noch die Rubrik »Parteinachrichten« übernahm. Hinzu kam, daß die
neue Redaktion einen eigenen Standpunkt nicht wirkungsvoll vertreten konnte. Rosa Luxemburgs Lagebericht nach drei Tagen an
ihren Vertrauten trug bereits Zeichen der Ernüchterung: »Der ›Vorwärts‹ sinkt, wie Du richtig bemerktest, schnell auf das
Niveau der ›Sächsischen Arbeiter-Zeitung‹ herab, und was das schlimmste ist, nur ich begreife das, teilweise K. K. [Karl Kautsky].
Die Redaktion besteht aus Ochsen, und überheblichen noch dazu.
›Journalist
– nicht ein einziger, dabei führen Eisner & Co. mitsamt der ganzen
Meute
der Revisionisten eine erbitterte Polemik gegen uns in der Presse, und darauf antwortet entweder August [Bebel]! oder Cunow
oder dgl. (!!). Und ich darf nur
Rußland
machen,
hie und da
Leitartikel schreiben und gute Ratschläge und Initiativen geben, die in ihrer Ausführung so entsetzlich ausfallen, daß ich
mich an den Kopf fasse. […]
Ist das nicht zum Heulen?
Und wenn Du Dir dann noch diesen Stil ein bißchen ansehen würdest, den sie alle schreiben!
Aus der Haut fahren möchte ich!
Natürlich erwartet uns (d. h. die Radikalen) eine solche Blamage, daß es furchtbar ist. Und einen Ausweg daraus sehe ich nicht,
denn es gibt keine Leute. Zu all dem rechne noch hinzu, daß ich müde bin wie ein Hund und kaum krieche. Dieses tägliche Fahren
um 4 Uhr zur Redaktion, Rückkehr gegen 9 Uhr und dieses Geschnatter dort mit dieser Bande quält mich unbeschreiblich. Dabei
stehe ich (seitdem das Dienstmädchen da ist) 49 jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr auf und gehe dauernd unausgeschlafen herum, denn abends kann ich |234| nicht einschlafen
vor Katzenjammer
. Mit einem Wort –
es ist schön
.« 50
Die sozialistenfeindliche Presse verfolgte den »Vorwärts«-Konflikt mit Häme. Die »Konservative Korrespondenz« und die »Post«
hetzten Anfang Dezember unverhohlen gegen Rosa Luxemburg: »Die galizische Jüdin Rosa Luxemburg ist jetzt die Tonangeberin
im ›Vorwärts‹, dem sozialdemokratischen Zentralorgan. Unter dem Einfluß dieser jüdischen Ausländerin ist der ›Vorwärts‹ in
die extremsten revolutionären Bahnen eingelenkt.
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