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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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spontanen
     Bewegungen, über die Funktion der Partei und nicht zuletzt ihr persönliches Engagement bei der Gründung und Profilierung sozialistischer
     Parteien widerlegen weitgehend die in der Luxemburg-Rezeption ständig wiederkehrende Unterstellung, sie hätte einer Spontaneitätstheorie
     gehuldigt und die Rolle der Partei verkannt.
    Die Stimmung und Entschlossenheit von Massen zu ergründen erwies sich auch für sie als äußerst schwierig. Sie setzte entsprechend
     ihrer Meinung, ein Vorankommen in Richtung Sozialismus sei nur mit Millionen interessierter und mitwirkender Menschen möglich,
     Vertrauen in die Massen. Zumal während der Revolution neigte sie allerdings dazu, allgemeine Annahmen und Hoffnungen nicht
     in allen Fällen ausreichend durch die konkrete Analyse des Massenwillens zu erhärten. So |256| leitete sie aus dem zu hoch eingeschätzten Stand der kapitalistischen Entwicklung im zaristischen Rußland 105 überhöhte Vorstellungen von der Rolle des Industrieproletariats als Seele der Revolution von 1905/06 ab, die nicht nur zum
     Auf und Ab des Revolutionsverlaufs, sondern auch zu eigenen Feststellungen in dieser Schrift im Widerspruch standen. 106
    Zu Recht polemisierte Rosa Luxemburg gegen die Auffassung, Rußland sei ein viel zu zurückgebliebenes Land und die russische
     Arbeiterbewegung viel zu unentwickelt, um der hochorganisierten und erfahreneren Bewegung in Deutschland und Westeuropa Lehren
     vermitteln zu können. Die russische Revolution habe erneut bewiesen, daß sechs Monate einer revolutionären Periode für die
     Schulung und Organisierung mehr bewirken können als zehn oder gar dreißig Jahre Volksversammlungen und Flugblattverteilungen
     in Zeiten parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes. Nur wenn die deutsche Sozialdemokratie diese Erfahrungen zur Kenntnis
     nähme, könne sie künftig die wachsenden Aufgaben bewältigen.
    Wer den Massenstreik nur als äußere Form der russischen Revolution betrachte und ihn »zu einer Vorratskanone für den Fall
     der Kassierung des Reichstagswahlrechts« erkläre, »kastriere« ihn wider jüngste Erfahrungen »zu einem passiven Mittel parlamentarischer
     Defensive«. 107
    Gewiß läge es nicht in der Macht der deutschen Sozialdemokratie, geschichtliche Situationen für politische Massenstreiks durch
     Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. »Was sie aber kann und muß, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie
     einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formulieren. Man hält nicht die geschichtlichen
     Ereignisse im Zaum, indem man ihnen Vorschriften macht, sondern indem man sich im voraus ihre wahrscheinlichen, berechenbaren
     Konsequenzen zum Bewußtsein bringt und die eigene Handlungsweise danach einrichtet.« 108 In Deutschland bedrücke die Menschen doch nicht nur die eventuelle Beseitigung des allgemeinen, gleichen und geheimen Reichstagswahlrechts,
     sondern der Brotwucher, die künstliche Fleischteuerung, die Auspowerung durch uferlosen Militarismus und Marinismus, die Korruption
     der Kolonialpolitik, der Stillstand der Sozialreform, die Entrechtung der Eisenbahner, |257| der Postbeamten und der Landarbeiter, das brutale Aussperrungssystem, die nationale Schmach der Ausländerbehandlung usw. usf.
     Dies alles entspränge der »koalierte[n] Herrschaft des ostelbischen Junkertums und des kartellierten Großkapitals« 109 . Da in Deutschland im Gegensatz zu Rußland längst eine bürgerliche Rechtsordnung bestehe, die schon wieder brüchig werde,
     käme »als letztes geschichtlich notwendiges Ziel« in »einer Periode offener politischer Volkskämpfe« nur »die
Diktatur des Proletariats«
in Frage. »Der Abstand aber dieser Aufgabe von den heutigen Zuständen in Deutschland ist ein noch viel gewaltigerer als der
     Abstand der bürgerlichen Rechtsordnung von der orientalischen Despotie […].« 110 Der Widersprüche und möglichen Konflikte zwischen Nah- und Fernziel der sozialdemokratischen Bewegung sowie der uneinheitlichen
     Entwicklung der deutschen Arbeiterklasse war sich Rosa Luxemburg durchaus bewußt. Im Gegensatz zu Gewerkschaftsführern und
     Sozialdemokraten, die mit Vorliebe die Stärke und Reife der Bewegung ausschließlich von Kassenständen, Mitgliederstatistiken
     und Wählerstimmen abhängig machten, plädierte sie für eine Ausrichtung der Politik nicht »nach den zurückgebliebensten Phasen
     der Entwicklung, sondern nach den fortgeschrittensten« 111

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