Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
und es gab einen aktuellen Anlaß für eine erneute eingehende
Behandlung. Nach ihrer Haftentlassung war Rosa Luxemburg von Emanuel Wurm ausführlich über die Ereignisse der letzten Monate
in Deutschland informiert worden. Sie erfuhr u.a., daß sich der Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften |250| am 16. Februar 1906 in geheimen Vereinbarungen gegen die Anerkennung des politischen Massenstreiks als Kampfmittel und gegen
den Jenaer Parteitagsbeschluß von 1905 aussprachen. Viele sozialdemokratische Mitglieder und Gewerkschafter hatten darauf
mit Empörung reagiert. Rosa Luxemburg wartete gespannt auf entsprechende Presseauszüge und andere Materialien über Massenstreikdispute
aus Deutschland und vergrub sich in die Arbeit. »Sie können sich denken«, schrieb sie an Franz Mehring, »wie vieles ich nachzuholen
habe: im Russischen die ganze Dumaperiode (Broschüren, Zeitungen, Berichte), deutsch – unsere neuste ›Parteikrise‹, ›Vorwärts‹,
›Neue Zeit‹ etc. […] Den Bericht von dem gewerkschaftlichen Femegericht habe ich dank Wurm erhalten und gelesen, man muß tief
atmen beim Lesen, um in dieser Stickluft der Borniertheit nicht zu ersticken.« Dennoch bezeichnete sie die parteiinternen
Auseinandersetzungen als heilsame Krise, die »gut ausgenützt« auf dem nächsten Parteitag in Mannheim zu einer »gründlichen
Luftreinigung« beitragen könne. 89
In der in Kuokkala verfaßten Broschüre legte Rosa Luxemburg ihre Ansichten über den proletarischen Befreiungskampf als Massenbewegung
ausführlich dar. Zum einen bewertete sie den politischen Massenstreik als Mittel zur Durchsetzung einzelner Forderungen und
zum anderen mit Blick auf künftige gesellschaftliche Veränderungen fundamentaler Art. Die jüngsten Erfahrungen hätten gezeigt,
wie stark das Gelingen der sozialen Revolution von der spontanen und engagierten Mitwirkung der Massen abhängt. Dem Massenstreik
müsse nach dem ersten revolutionsgeschichtlichen Experiment ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Bisher habe sich die
internationale Sozialdemokratie zu stark auf die Generalstreiktheorie der Anarchisten bezogen, eine »ganz auf das ›Losschlagen‹
und die ›direkte Aktion‹ zugeschnittene, im nacktesten Heugabelsinne ›revolutionäre‹ Richtung« 90 . Rußland, die Geburtsstätte des Anarchismus, sei jedoch durch die jetzige Revolution zu dessen Grabstätte geworden. 91 Man könne wahrhaftig nicht unter Umgehung des politischen Kampfes und des Parlamentarismus durch einen Theatercoup in die
soziale Revolution springen.
Das Verwirrende der bisherigen Diskussionen auch in der |251| deutschen Sozialdemokratie rühre aber genau daher, daß sowohl neuerliche Befürworter eines »Versuchs mit dem Massenstreik«
wie Eduard Bernstein und Kurt Eisner als auch Gegner des politischen Massenstreiks in Gewerkschaftskreisen wie Theodor Bömelburg
oder Robert Schmidt von einer anarchistischen Auffassung ausgingen. Guter Wille aber und Mut, die Menschheit aus dem kapitalistischen
Jammertal zu retten, reichten längst nicht mehr aus, seien antiquiert und gefährlich. In der Meinung, ein Massenstreik könne
»beschlossen« oder »verboten« werden, stecke noch immer eine gehörige Portion anarchistischen Gedankenguts. Und der Fehlschluß
des kapitalistischen Polizeistaates, die Arbeiterbewegung sei Produkt einer Handvoll gewissenloser »Wühler und Hetzer«, die
man nur in Gewahrsam nehmen müsse, um der unliebsamen »vorübergehenden« Erscheinung Herr zu werden, beruhten auf ähnlichen
falschen Vorstellungen. Diejenigen »braven Genossen«, die sich »zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um
die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger ›Revolutionsromantiker‹ und ihrer ›Propaganda des Massenstreiks‹
zu warnen« 92 , würden sich ihres unhistorischen und unzeitgemäßen Standpunktes gewiß rasch bewußt werden, wenn sie sich gründlich mit dem
Verlauf der Massenstreiks während der russischen Revolution befaßten.
Die Analyse von Massenstreiks erhelle, wie Klassengefühle, Klassenbewußtsein und revolutionäre Energie in Millionen und aber
Millionen Menschen entstehen, aber auch zerrinnen können. Rosa Luxemburg rekapitulierte die Geschichte russischer Massenstreiks
von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum aktuellen Revolutionsgeschehen. Eigene Erfahrungen und sozialkritischer Sachverstand
ließen sie für das
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