Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
spontanen ›Ideen‹, wissen Sie, die kann ich nicht hervorbringen,
und ehrlich gesagt, ich lege auch keinen großen Wert darauf. Ich habe Pl[echanow] gern bei den Axelrods aus der Ecke angesehen,
einfach nur sehen, wie er spricht, wie er sich bewegt, sein Gesicht zu betrachten – es gefällt mir |40| außerordentlich. Aber nach Mornex fahren und mich in die Ecke setzen und ihn bewundern, das geht nicht. – Und Wera [Sassulitsch]
kann irgendwie nicht reden. Aber sie ist ein prachtvoller Mensch.« 13
Georgi Plechanow und Wera Sassulitsch mußten sich in dem kleinen französischen Grenzort Mornex aufhalten, weil sie nach einer
Bombenexplosion in den Bergen bei Zürich im März 1889 als unerwünschte Ausländer aus der Schweiz ausgewiesen worden waren,
ohne in den Vorfall verwickelt gewesen zu sein. Plechanows Frau durfte in Genf wohnen bleiben. Das Ehepaar war 1880 aus Rußland
nach Genf emigriert. Hier hatte Georgi Plechanow 1883 zusammen mit Pawel Axelrod, Wera Sassulitsch, Lew Deutsch und Wassili
Ignatow die erste Organisation russischer Marxisten, die Gruppe »Befreiung der Arbeit«, gegründet. Inzwischen war er ein international
geachteter Theoretiker, der sich obendrein durch die Übersetzung und Verbreitung mehrerer Schriften von Marx und Engels sowie
von Sozialisten u. a. aus Deutschland und Frankreich Anerkennung erwarb. Für seine »Bibliothek des modernen Sozialismus« und
seine »Arbeiterbibliothek« fehlte es ihm jedoch häufig an Geld.
Rosa Luxemburg zollte Plechanow großen Respekt, seit sie ihn persönlich kennengelernt hatte. Leo Jogiches führte der Weg 1891
zu ihm, weil er in der Gruppe »Befreiung der Arbeit« mitarbeiten und auf die Gründung einer Arbeiterpartei in Rußland energisch
hinwirken wollte. Im Unterschied zu Plechanow, der seinen Lebensunterhalt zuweilen mit Adressenschreiben verdienen mußte und
für die Herausgabe von Publikationen auf Spenden angewiesen war, besaß Jogiches 15 000 Rubel. Er wollte jedoch nicht nur Geld einbringen dürfen, sondern verlangte, als Parteimitglied gleichberechtigt gehört
zu werden und auch in inhaltlichen Fragen mitbestimmen zu können. Der zehn Jahre ältere und auf seine Autorität eitel bedachte
Plechanow lehnte Jogiches’ Forderungen strikt ab. Er fand es von diesem »Emporkömmling«, diesem »Ehrgeizling« arrogant und
empörend, sein politisches Ansinnen mit dem finanziellen Druckmittel durchsetzen zu wollen. 14 Die gegenseitigen Vorbehalte wurden nie abgebaut. Leo Jogiches begründete nach der ersten unersprießlichen Begegnung mit
dem |41| »Alten« das Verlagsunternehmen »Sozialdemokratische Bibliothek«, das von 1892 bis 1895 bestand. Es brachte Plechanow noch
mehr in Harnisch, denn Jogiches gab »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, übersetzt von Boris Kritschewski, und einige
andere Schriften von Marx heraus, druckte in russisch von Karl Kautsky »Das Erfurter Programm« sowie Schriften über Arbeiterkämpfe
in England und Belgien.
Ab dem Sommersemester 1892 widmeten sich Rosa Luxemburg und Leo Jogiches ihrem Studium an der Universität Zürich. Rosa hatte
1891/92 zwei Semester ausgesetzt; kurioserweise trug sie sich am 7. Mai 1892 das zweite Mal in die Matrikelbücher der Züricher
Universität ein, und seit dem Sommersemester 1893 wurde sie als Studentin der Staatswissenschaften geführt. 15 Sie belegte Vorlesungen über Nationalökonomie, Philosophie, Geschichte, Staats- und Verwaltungsrecht.
Ihr besonderes Interesse galt der klassischen politischen Ökonomie von Adam Smith, David Ricardo und anderen und nicht zuletzt
dem »Kapital« von Karl Marx. Sie bevorzugte die Lehrveranstaltungen von Julius Wolf, der Geschichte und Theorie der Nationalökonomie,
Finanzwissenschaft, Praktische Nationalökonomie, Wirtschafts- und Börsenkrisen und auch ausgewählte Texte von Marx behandelte.
1892 erschien sein Buch »Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung«, das nach seinen eigenen Worten »die schärfste
Zurückweisung der wirtschaftlichen Evolutionstheorie des Marx« war und in Rezensionen heftig kritisiert wurde. 16
Rosa Luxemburg schätzte den Professor, hatte jedoch, da sie Marx’ Theorie für richtiger hielt, an seiner Lehr- und Forschungsmethode
viel auszusetzen. Er zerpflückte ihr die soziale Wirklichkeit zu stark und ordnete sie zu willkürlich und zu schematisch.
Es bereitete ihr folglich im Seminar Vergnügen, den Gelehrten z. B. zusammen mit
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