Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
seine Familie aufzubringen. Der gute Geist des Hauses war
Frau Olympia. »Ebenso fleißig und gewissenhaft als er, war sie dabei energisch, lebhaft und witzig«, erinnerte sich Karl Kautsky.
»Eine leidenschaftliche, revolutionäre Polin, verstand es Frau Olympia, ihr Haus zu einem geselligen Zentrum der polnischen
und darüber hinaus der slawischen Emigration in der Schweiz zu machen. Diese Gesellschaft interessierte mich und zog mich
an. Es war ein sehr lebhaftes, oft lautes Treiben, das sich da im Lübeckschen Hause entwickelte, neben dem stillen Hausvater,
der in eine Ecke geschoben schweigend zusah, aber durchaus nicht verdrossen, sondern stets mit einem befriedigten, gütigen
Lächeln. Denn er liebte den Frohsinn in seinem Hause, und je weniger er selbst dazu beitragen konnte, um so mehr freute er
sich, wenn andere durch ihre zuversichtliche Heiterkeit es erfüllten.« 9 Diese Atmosphäre half Rosa Luxemburg, in der Fremde zurechtzukommen. Sie plauderte gern mit dem Hausherrn, der ihr zudem
Kenntnisse über die deutsche Arbeiterbewegung vermittelte, und sie schrieb nach seinem Diktat Artikel, mit denen der Kranke
Geld verdienen konnte.
Ihre Studien betrieb Rosa Luxemburg in der Universitätsbibliothek und in der Bibliothek im Vereinshaus »Eintracht«, in der
Polen-Bibliothek in Rapperswil, bald auch in Genf und anderen Orten der Schweiz. Im Frühjahr 1892 weilte sie auch bereits
einmal in Berlin, weil sie in der Preußischen Staatsbibliothek recherchieren wollte.
In Warschau hatte Rosa Luxemburg durch illegale Agitation und Zirkeltätigkeit erste Anhaltspunkte über die Ziele der sozialistischen
Partei »II. Proletariat« erhalten. Schriften und Diskussionen regten sie an, sich intensiver für sozialistische Theoretiker
und für die Organisationspraxis in der Arbeiterbewegung zu interessieren. Welche Werke von Marx und Engels sie in den ersten
Studienjahren kannte und wieviel sie über die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung wissen konnte, wird nicht selten
überschätzt. Für ihren weiteren Lebensweg war entscheidend, daß sie sich gegenüber Neuem aufgeschlossen zeigte, ein Gespür
für Widersprüche in der Gesellschaft besaß und willens war, sich für ihre Ideale zu engagieren.
|37| Beeile Dich, teures Gold, so schnell wie möglich
Im Jahre 1890 trat mit Leo Jogiches ein Mann in ihr Leben, der ihr mit dem durchdringenden Blick seiner blauen Augen, dem
schmalen, markant profilierten Gesicht unter rotblondem Lockenschopf, mit seiner Selbstsicherheit und dem sinnlichen Reiz
seines männlichen Charmes von der ersten Begegnung an gefiel. Leo Jogiches nahm ab Dezember 1890 seinen festen Wohnsitz in
Zürich und schrieb sich im Wintersemester an der Universität für Allgemeine Botanik und Allgemeine Zoologie ein. Neugierig
beobachtete Rosa Luxemburg den vier Jahre älteren interessanten Mann, der Russisch sprach, darauf bedacht war, sich sehr präzis
auszudrücken, in Gesprächen aber lieber zuhörte, seine Partner musterte und seltener durch besondere Lebhaftigkeit fesselte.
Dennoch schien er voller Tatendrang und bereits durch besondere Erfahrungen geprägt.
Leo Jogiches lebte in der Schweiz unter dem Pseudonym Grosowski (Grozowski, Grosovski). Er stammte aus einer wohlhabenden
jüdischen Familie und hatte sich bereits seit einigen Jahren darum bemüht, jüdische Arbeiter und Intellektuelle für den Kampf
gegen den Zarismus zu gewinnen und zu organisieren. Aus seiner Heimatstadt Wilna mußte er fliehen, da ihm die zaristische
Gendarmerie auf den Fersen war. Im Rundschreiben des Petersburger Polizeidepartements vom 11. (23.) Juni 1890 hieß es: »Der
Wilnaer Bürger Lew Samuilow Jogiches, der als Angeklagter zur Untersuchung eines Staatsverbrechens herangezogen und auf höchsten
Befehl am 26. April (8. Mai) 1889 mit vier Monaten Gefängnis bestraft wurde und anschließend für ein Jahr in seinem Heimatort
unter öffentliche Polizeiaufsicht gestellt war, wurde zum Militärdienst einberufen und sollte zu den Truppen des Turkestaner
Militärbezirks beordert werden. Am 27. Mai (8. Juni) dieses Jahres flüchtete er jedoch von dem Sammelpunkt in Wilna und konnte
durch die eingeleiteten Maßnahmen bis jetzt nicht aufgegriffen werden.
Von der genannten Person verfügt das Polizeidepartement über folgende Angaben, die für die Ergreifung dienlich sein können:
Jogiches, Lew Samuilow, geboren 1867 in der Stadt Wilna, jüdischen Glaubens,
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