Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
wecken, zu Dir nach oben schlafen gehst
und mir morgen früh eine Überraschung bereitest. Ich lächelte zufrieden und schlief ein. Heute früh stehe ich auf, fliege
zu Dir nach oben und – sehe, daß meine nächtlichen Kombinationen nur Traum waren.« 22
Vorangestellt hatte sie eines ihrer typischen Stimmungsbilder: »Heute ist es seit dem Morgen ganz grau – zum ersten Mal. Von
Regen keine Spur. Der ganze Himmel ist mit Wolken unterschiedlicher Größe und unterschiedlicher Schattierung bedeckt und sieht
wie ein tiefes, stürmisches Meer aus. Der See glitzert mit stahlfarbener glatter Oberfläche. Die Berge, |44| vom Dunst verhüllt, sind traurig, der Dent du Midi ist wie im Nebel zu sehen. Die Luft ist mild, frisch und erfüllt vom Duft
der Apfelbäume und Gräser. Ringsum Stille, die Vögel zwitschern wie im Traum – leise und gleichmäßig. Ich sitze in der Nähe
des Hauses im Gras, unter einem Baum, an dem kleinen Weg, der am Brunnen vorbeiführt. Das Gras wuchert ganz üppig; Blumen,
besonders diese großen gelben, in Fülle. Darüber schwirren Bienen in solchen Massen, daß um mich herum ein unaufhörliches
Summen. Es duftet auch nach Honig. Ab und zu fliegt ein großer Brummer mit lautem Gesumm drüber hinweg. Mir ist traurig zumute,
und gleichzeitig ist mir sehr wohl in der Seele, denn ich liebe solch ein stilles, versonnenes Wetter ungemein. Nur schade,
daß es mich eher zum Träumen als zur Arbeit einstimmt. Dziodzio, beeile Dich!« 23
Wir haben Nachrichten aus unserem Lande erhalten – wieder sehr gute
Rosa Luxemburg war sehr darauf bedacht, sich aus persönlichen Querelen, die unter den besonderen Lebensbedingungen von Emigranten
auch zwischen politischen Flüchtlingen nicht ausbleiben, herauszuhalten. »Es war für mich eine wahre politische Schule, als
Verlobte Marchlewskis und als ehemalige Mitschülerin Rosas im II. Warschauer Gymnasium drei Jahre in dieser Gruppe zu sein«,
schrieb Bronislawa Gutman. »Von Rosa wurde ich in einen Zirkel von Studentinnen gezogen, mit dem sie politisch arbeitete.
Meine Aufgabe war es, unter den emigrierten polnischen Arbeitern, die in Schweizer Fabriken arbeiteten, zu lehren.« 24 Den regelmäßigen Informationsaustausch zwischen polnischen und russischen Studenten und Emigranten über Ereignisse in ihren
Ländern hielt Rosa Luxemburg für sehr wichtig. Auch an Boris Kritschewski, der in Paris lebte, schrieb sie begeistert, wenn
sie neue Nachrichten aus polnischen Gebieten erreicht hatten. Deren gab es viele, denn die polnische Arbeiterbewegung nahm
Anfang der 90er Jahre einen Aufschwung. Das imposanteste Beispiel dafür war der 1. Mai 1892, an dem es in einigen Arbeiterzentren
zu Demonstrationen und Aktionen kam. Der »Aufstand von Łódź« |45| stand ganz im Zeichen des Kampftages. Etwa 60 000 Arbeiter streikten vom 2. bis 6. Mai 1892 gegen Ausbeutung und nationale Unterdrückung. Zaristisches Militär schlug die
Aktionen brutal nieder. Sechs Menschen wurden getötet, etwa 300 verletzt und 350 verhaftet. Rosa Luxemburg verfaßte darüber
einen Bericht, der 1893 unter dem Titel »Święto 1 Maja 1892 w Łódźi« gedruckt wurde. Bereits 1892 war in Jogiches’ »Sozialdemokratischer
Bibliothek« in Paris »Święto pierwszego maja«, eine Broschüre mit Reden, erschienen, die auf Versammlungen zum 1. Mai 1892
in Wilna und Warschau gehalten worden waren; unter dem Pseudonym R. Kruszyńska hatte Rosa Luxemburg dazu ein Vorwort beigesteuert.
Dies war die erste politische Publikation in ihrem Leben; dank Leos Findigkeit und des selbstlosen Einsatzes von Genossen
gelangten beide Broschüren in polnische Gebiete, wo sie die Bildung neuer sozialistischer Organisationen und die Vorbereitung
weiterer Aktionen unterstützten.
Seit Rosa Luxemburgs Flucht aus Warschau hatte es verschiedene Versuche zur Schaffung proletarischer Organisationen gegeben.
Marcin Kasprzak und einige andere nicht eingekerkerte Mitglieder der zerschlagenen Partei »II. Proletariat« setzten den Kampf
fort. Kasprzak arbeitete eng mit Julian Marchlewski zusammen, der 1889 den »Związek Robotników Polskich« (ZRP), den Verband
polnischer Arbeiter, ins Leben gerufen hatte, 1891/92 aber inhaftiert wurde und danach emigrieren mußte. Rosa Luxemburg bezeichnete
diesen Verband später seinem Wesen nach als eine sozialdemokratische Organisation, als »eine gesunde und an Perspektiven reiche
Erscheinung, die dem Sozialismus in Polen einen
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