Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Daraus wurde jedoch nichts. Sie blieb in Berlin, schickte Clara Zetkin ein Päckchen und schrieb ihr, Kostja sei
wahrlich nicht dazu geschaffen, »den inneren Parteikampf und die unvermeidlichen Konflikte mit den Parteigenossen auszuhalten« 5 . Wie seine Mutter begrüßte sie deshalb Kostjas Orientierung auf ein Medizinstudium: Dann könne er aus freiem Entschluß und
als unabhängiger Mensch für die Partei wirken. Die Partei brauche junge Leute, und gewiß kämen bald Zeiten, »wo in der Partei
ein gründlicher Umschwung stattfindet, wo wir vor großen, neuen Aufgaben stehen, denen gegenüber der ganze Dreck mit der Zietz
und dem Parteivorstand einfach verschwindet, und wo Menschen nötig sind, um den Massen Mut gegen ihre feigen Führer zu geben« 6 .
Eine solche Situation entwickelte sich zu Beginn des Jahres 1910, als die Bewegung für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen
einen enormen Aufschwung durch die vielen Bürger bekam, deren Empörung über die Aufrüstung, die Wirtschaftskrise 1907 bis
1909, die sogenannte Reichsfinanzreform und das »persönliche Regiment« Wilhelms II. wuchs. Am 14. Januar 1910 riefen der Parteivorstand,
der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die sozialdemokratische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus
für den 16. Januar zu Großkundgebungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht auf. Dieser Tag wurde zu einem machtvollen
Auftakt des Wahlrechtskampfes 1910. Ein neuer Abschnitt |333| habe begonnen, schrieb der »Vorwärts«. Die Massenversammlungen seien nur die Einleitung gewesen. Die Arbeiter seien bereit,
den Kampf für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen in der schärfsten Form zu führen, und würden auf keins der proletarischen
Kampfmittel verzichten, darin stimme die Parteiführung mit den Massen überein. 7 Doch obwohl in der Wahlrechtsreformvorlage der Regierung vom 4. Februar 1910 keine der Forderungen an ein demokratisches
Wahlrecht erfüllt wurde, empfahl die preußische Landeskommission der Sozialdemokratie in einem vertraulichen Beschluß vom
7. Februar lediglich, wie bisher Versammlungen durchzuführen, Flugblätter, Denkschriften und parlamentarische Eingaben zu
verfassen. Aufrufe zu Demonstrationsstreiks sollten einer späteren Entscheidung des Parteivorstandes und der Generalkommission
der Gewerkschaften überlassen bleiben. 8 Rosa Luxemburg verfolgte die Ereignisse sehr genau, denn nicht verpaßt werden durfte der Moment, an dem außerparlamentarischer
Druck gemacht werden mußte.
Am 10. Februar begannen die Beratungen über die Regierungsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus. Der Wahlgesetzentwurf hielt
an der Dreiklasseneinteilung, den alten Wahlkreisen und der öffentlichen Stimmabgabe fest. Neu waren lediglich die direkte
Wahl und das Aufrücken von Reichstagsabgeordneten, Akademikern, ehemaligen Offizieren und ähnlichen sogenannten Kulturträgern
in eine höhere Klasse. Nach zweiter Lesung im Abgeordnetenhaus wurde der Entwurf am 16. März mit den Stimmen der Konservativen
und des Zentrums befürwortet. Am 15. April ging er ins Herrenhaus, dessen Wahlrechtskommission so viele Änderungen vornahm,
daß sich der Reichskanzler Bethmann Hollweg gezwungen sah, angesichts des Drucks der Konservativen einerseits, die keine Änderung
wollten, und der empörten Öffentlichkeit andererseits, die weitergehende Rechte einklagten, die Vorlage während der dritten
Lesung im Abgeordnetenhaus am 27. Mai zurückzuziehen. Dieses Dilemma wertete Rosa Luxemburg als Bankrott der Regierung 9 , als »Faustschlag ins Gesicht der demonstrierenden Massen« 10 . Nichts sei folglich dringender, als die regierenden Kreise während dieser Manöver mit wuchtigen Aktionen in Atem zu halten,
sie sollten spüren, daß es der Arbeiterbewegung |334| nicht an Mut zur Konsequenz mangelt. Wolle »man nur ein paar Demonstrationen als kurze Parade nach dem Schnürchen und nach
dem Kommando ausführen, um dann vor einer Verschärfung des Kampfes zurückzuweichen und sich schließlich auf die altbewährte
Vorbereitung zu den Reichstagswahlen über ein Jahr zurückzuziehen, dann sollte man lieber nicht von einer ›Volksbewegung größten
Stils‹ reden, die Anwendung ›aller zu Gebote stehenden Mittel‹ auf dem Parteitag ankündigen, im ›Vorwärts‹ im Januar ein ohrenbetäubendes
Säbelgerassel inszenieren und selbst im Parlament mit dem Massenstreik drohen. […] Sonst kommen wir in
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