Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
die Gefahr, wiederum
ein wenig an die Schilderung der französischen Demokratie im ›Achtzehnten Brumaire‹ zu erinnern«, in dem Marx über die kleinbürgerlichen
Einschüchterungsversuche des Gegners sagt: »›Die schmetternde Ouvertüre, die den Kampf verkündete, verliert sich in ein kleinlautes
Knurren, sobald er beginnen soll […], und die Handlung fällt platt zusammen wie ein luftgefüllter Ballon, den man mit einer
Nadel pickt.‹« 11
In vielen großen Städten des Reichs verstärkten sich die Proteste. Der Parteivorstand aber verhandelte hinter den Kulissen
mit der Generalkommission der Gewerkschaften darüber, wie die Bewegung aufgehalten werden könnte. Diese entschied sich Anfang
März gegen einen Massenstreik; sie berief sich auf die schlechte Lage in der Industrie und den Mitgliederschwund in den Gewerkschaften.
Rosa Luxemburg konnte ihre Auffassungen nur unter großen Schwierigkeiten verbreiten. Das Schicksal ihres »scharfen Artikels
über Massenstreik und Republik«, den sie Anfang März 1910 schrieb, war symptomatisch. »Zuerst gab ich ihn dem ›Vorwärts‹«,
berichtete sie Clara Zetkin, »dieser lehnte ihn ab mit der Motivierung, die Parteileitung und der Aktionsausschuß haben die
Redaktion verpflichtet, nichts über den Massenstreik zu bringen. Gleichzeitig wurde mir vertraulich mitgeteilt, der Vorstand
verhandle gerade mit der Generalkommission wegen des Massenstreiks. Ich gab dann den Artikel an die ›Neue Zeit‹. Nun bekam
es mein Karl (Kautsky) furchtbar mit der Angst und flehte mich vor allem an, den Passus über die Republik zu streichen …« 12 Der Artikel sei sehr schön und sehr wichtig, er behalte sich allerdings vor, dagegen zu polemisieren. Er |335| drucke den Text, aber den letzten Teil könne er auf keinen Fall bringen, denn schon sein Ausgangspunkt sei falsch. Im Parteiprogramm
stünde kein Wort von der Republik – aus wohlerwogenen Gründen. »Genug, was Du willst«, schrieb Kautsky, »ist eine völlig neue
Agitation, die bisher stets abgelehnt worden war. […] In dieser Weise können und dürfen wir nicht vorgehen. Eine einzelne
Persönlichkeit, wie hoch sie stehen mag, darf nicht auf eigene Faust ein Fait accompli schaffen, das für die Partei unabsehbare
Folgen hat.« 13
Rosa Luxemburg hatte an Tabus gerüttelt. Karl Kautsky befürchtete, die von ihr aufgeworfenen Fragen könnten heftige Kontroversen
auslösen, und um der »Einheit der Partei« und der »Ruhe« für die Reichstagswahlen willen gebot er Parteidisziplin. Rosa Luxemburg
akzeptierte die Streichung der Gedanken über die Republik, damit wenigstens der Massenstreik in die Debatte komme. Doch auch
diese von ihm selbst vorgeschlagene Variante lehnte Kautsky letztlich ab, ihr blieb nur noch die Möglichkeit, den Artikel
über Freunde in die lokale Parteipresse zu lancieren.
Der erste Teil des Artikels erschien unter dem Titel »Was weiter?« am 14. und 15. März 1910 in der Dortmunder »Arbeiter-Zeitung«,
der zweite Teil – mit einer hinzugefügten Einleitung und einem neuen Schluß als »Zeit der Aussaat« – am 25. März 1910 in der
»Volkswacht« Breslau. Die Artikel wurden in vielen örtlichen Presseorganen nachgedruckt: »Zeit der Aussaat« mit der Losung
von der demokratischen Republik z. B. in Dortmund, Bremen, Halle, Elberfeld, Königsberg und in einigen thüringischen Blättern.
Für den 15. März 1910 waren in Berlin 48 Versammlungen einberufen worden, als Referenten hatte man vorwiegend Gewerkschaftsbeamte
verpflichtet. Dadurch sollte möglichen Aktionen am 18. März vorgebeugt werden, denn der erfolgreiche »Wahlrechtsspaziergang«
am 6. März, bei dem der Berliner Polizeipräsident beispielhaft überlistet worden war, ließ an der Entschlossenheit der Berliner
Sozialdemokraten und Gewerkschafter keinen Zweifel. Der »Vorwärts« verbot von vornherein, an die Versammlungen vom 15. März
Straßendemonstrationen anzuschließen. Rosa Luxemburg erfuhr am 12. März in der Parteischule, daß ein Redner fehlte, und sprang
sofort ein. |336| Sie trat im IV. Wahlkreis auf, begleitet von Kostja Zetkin, Hans Diefenbach, dessen Freund Gerlach und Gustav Eckstein. »Die
Versammlung war zum Umkommen voll (ca. Eineinhalbtausend)«, berichtete sie, »Stimmung glänzend. Ich zog natürlich gehörig
vom Leder, und das fand stürmische Zustimmung.« 14
Der Artikel »Was weiter?« veranlaßte die preußische Landeskommission, auf Drängen Carl
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