Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Legiens am 22. März erneut zu beschließen,
»daran festzuhalten, daß zur Zeit kein Demonstrationsstreik gemacht werden kann«. Die Genossen sollten dafür sorgen, »daß
die Diskussionen über den Massenstreik gegenwärtig hintangehalten werden«. 15 Die Empörung war groß; Kreisorganisation und Presse des niederrheinischen Agitationsbezirks lehnten sich am 1. April 1910
entschieden dagegen auf. Doch wiederum untersagte der Chefredakteur der »Neuen Zeit« Rosa Luxemburg, eine ihr zugesandte Protestresolution
gegen das Verbot, über den politischen Massenstreik öffentlich zu diskutieren, zu zitieren. 16
Rosa Luxemburg war entsetzt, wie die Massenbewegung für ein demokratisches Wahlrecht abgewürgt wurde. Karl Kautsky habe zum
Bremsen der Bewegung »bloß die theoretische Musik« gemacht, schrieb sie. »Wären nämlich die Gewerkschaftsführer allein […]
gegen die Losung des Massenstreiks öffentlich aufgetreten, so hätte dies nur zur Klärung der Situation, zur Schärfung der
Kritik bei den Massen geführt. Daß sie dies nicht nötig hatten, daß sie vielmehr durch das Medium der Partei und mit Hilfe
des Parteiapparats die ganze Autorität der Sozialdemokratie zum Bremsen der Massenaktion in die Waagschale werfen konnten,
das hat die Wahlrechtsbewegung zum Stillstand gebracht.« 17
Durch langes Zögern, Unentschlossenheit in der Wahl der Mittel und in der Taktik des Kampfes sei eine Schlacht schon fast
verloren. Das habe sich in früheren Jahren in Belgien, in Österreich-Ungarn und Rußland gezeigt und sei in den letzten Wochen
in Deutschland offenkundig geworden. Die deutsche Sozialdemokratie dürfe der II. Internationale nicht nur Musterbeispiele
für parlamentarische Kämpfe liefern. Jetzt seien in Deutschland die Bedingungen für andere Formen von Massenaktionen herangereift,
für die die Organisiertheit und Disziplin der deutschen Partei unbedingt auch genutzt werden müßten. 18 |337| Masseninitiative dürfe nicht dem Zufall und dem Selbstlauf überlassen werden. 19
Die Agitation für den Massenstreik, betonte Rosa Luxemburg, »gibt die Möglichkeit, die ganze politische Situation, die Gruppierung
der Klassen und Parteien in Deutschland in schärfster Weise zu beleuchten, die politische Reife der Massen zu steigern, ihr
Kampfgefühl, ihre Kampffreude zu wecken, an den Idealismus der Massen zu appellieren, neue Horizonte dem Proletariat zu zeigen.
Dadurch wird die Erörterung des Massenstreiks zum hervorragenden Mittel, indifferente Schichten des Proletariats aufzurütteln,
proletarische Anhänger der bürgerlichen Parteien, namentlich des Zentrums, zu uns herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten
der Situation bereitzumachen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichstagswahlen vorzuarbeiten.« 20
Den ganzen April hindurch raste ich durch Deutschland
Im März wurde Rosa Luxemburg in mehrere Städte als Referentin eingeladen. Am liebsten wäre sie unverzüglich zu einer Agitationstour
aufgebrochen, doch der Kurs an der Parteischule mußte erst beendet werden. Schließlich hatte sie viel Mühe in die Vorbereitung
neuer Vorlesungen über Kartelle, Bank- und Börsenwesen sowie Währungsfragen investiert.
Vor ihrer Reise schickte sie für Kostja Zetkin vorsorglich ein Paket ab und bat Clara Zetkin, am 14. April einen Strauß mit
seinen Lieblingsblumen und kleine Aufmerksamkeiten recht nett zu arrangieren. Den Geburtstagsbrief sandte sie von unterwegs
– aus Dortmund.
Vom 2. bis 18. April 1910 war Rosa Luxemburg auf Tour. Zum Thema »Der Wahlrechtskampf und seine Lehren« sprach sie in Gottesberg
am 3., in Liegnitz am 4., in Breslau am 5., in Bremen am 6., in Kiel am 7., in Dortmund und Kamen am 10., in Essen am 11.,
in Remscheid und Düsseldorf am 11./12., in Solingen am 13., in Barmen und Elberfeld am 15. und 16., in Frankfurt (Main) am
17. und in Hanau am 18. April. Ende April/Anfang Mai folgten noch Küstrin und Köln.
Tagsüber auf der Bahn, abends in Versammlungen reden, Gespräche |338| in Lokalen und im Hotel – in diesem Rhythmus verlief ein Tag nach dem andern. Ständig mußte sich Rosa Luxemburg auf neue Gesprächspartner,
Zuhörer und Orte einstellen. »Mir geht es gut«, schrieb sie. »Ich habe mir einen neuen schwarzen Rock machen lassen zur Reise
und eine schwarze Seidenbluse mit offenem Hals, dazu habe ich einen kleinen Strohhut und neue Handschuhe.« 21 Während der Fahrten mit dem Zug ließ sie ihre
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