Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Stelle des physischen Existenzminimums erst das kulturelle gesellschaftliche Existenzminimum, das heißt eine bestimmte
kulturelle Lebenshaltung der Arbeiter schaffen, unter welche die Löhne nicht herabgehen können, ohne sofort einen Kampf der
Koalition, eine Abwehr hervorzurufen. Darin liegt namentlich auch die große ökonomische Bedeutung der Sozialdemokratie, daß
sie durch die geistige und politische Aufrüttelung der breiten Massen der Arbeiter ihr kulturelles Niveau und dadurch |330| ihre ökonomischen Bedürfnisse erhöht. Indem zum Beispiel das Abonnieren einer Zeitung, das Kaufen von Broschüren zu Lebensgewohnheiten
des Arbeiters werden, erhöht sich dem genau entsprechend seine wirtschaftliche Lebenshaltung und infolgedessen die Löhne.
Die Wirkung der Sozialdemokratie in dieser Hinsicht ist von doppelter Tragweite, insofern die Gewerkschaften eines gegebenen
Landes mit der Sozialdemokratie eine offene Allianz unterhalten, weil alsdann die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie auch die
bürgerlichen Schichten zur Gründung von Konkurrenzgewerkschaften treibt, die ihrerseits die erzieherische Wirkung der Organisation
und die Hebung des Kulturniveaus in weitere Kreise des Proletariats tragen.« 279 Die Gewerkschaft spiele also eine unentbehrliche Rolle im modernen Lohnsystem. »Erst durch die Gewerkschaft wird nämlich
die Arbeitskraft als Ware in die Lage versetzt, zu ihrem Wert verkauft zu werden.« 280
Rosa Luxemburgs »Einführung in die Nationalökonomie« mit ihren anregenden Passagen von unvermindert aktuellem Interesse beweist,
wie lebensnah, kreativ und kritisch sie ihre Maxime zu verwirklichen verstand: »Man lernt am schnellsten und am besten, indem
man andere lehrt.« 281
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|331| EMPÖRUNG
1910–1913
Uns gebührt die Offensive!
Im Herbst des Jahres 1909 war Rosa Luxemburg wieder einmal recht unzufrieden und verfiel in mißlaunige Grübeleien. Sie hatte
die »Einführung in die Nationalökonomie« nicht wie geplant fertigstellen können. Ende 1909 lagen erst zwei der vorgesehenen
acht Broschüren druckfertig vor. Das behagte ihr ganz und gar nicht, denn der Unterricht an der Parteischule ließ ihr »fast
keine Kraft mehr für irgendeine andere Arbeit« 1 . Auch die Redaktionsarbeit für die SDKPiL-Presse belastete sie, war doch zur theoretischen Zeitschrift »Przegląd Socjaldemokratyczny«
und zum »Czerwony Sztandar« die neue legale Zeitung »Trybuna« hinzugekommen.
Leo Jogiches, der seit seiner Rückkehr nach Berlin im Januar 1908 unter dem Namen K. Krzystalowicz im Hotel Schloßpark in
Steglitz wohnte, hatte sich in der Cranachstraße nicht abgemeldet. Folglich blieb Rosa Luxemburgs Domizil Anlaufpunkt für
Emissäre der SDKPiL und der polnischen Redaktionen sowie für Hilfesuchende und Gäste. Des ewigen Trubels überdrüssig und nicht
mehr bereit, »dieses Hin- und Hergezerre länger zu ertragen«, bat sie Leo Jogiches, über das Geschäftliche nur noch schriftlich
mit ihr zu verkehren. Um das Abholen der Zeitungen und Materialien für die polnischen Redaktionen müßten sich künftig andere
kümmern. Sie wolle sich lieber irgendwo ein möbliertes Zimmer nehmen, damit sie wisse, daß sie bei sich »zu Hause und nicht
im Hotel« sei. 2
Den Leipziger Parteitag bewertete sie als »eine eklatante Niederlage« 3 für die revolutionären Kräfte in der deutschen Partei. Sie war gar nicht erst hingefahren. Nur widerwillig schrieb sie für
den »Vorwärts« und die »Leipziger Volkszeitung« Leitartikel und war verärgert, daß aus diesen die Polemik gestrichen wurde.
Sie sprach wohl auch sich selbst Mut zu, als |332| sie ihre Freundin Clara Zetkin ermunterte, sich »von diesem Parteijammer nicht ganz überwältigen« zu lassen. Außer dem Parteivorstand
und »Kanaillen von der Art der Zietz und Co.«, mit denen Clara Zetkin wegen der Einstellung von Elfriede Gewehr, einer Parteischülerin
aus dem Kurs 1908/09, in der Redaktion der »Gleichheit« im Streit lag, gebe es »im Leben noch viel Schönes und Reines«. Die
Symptome der allgemeinen Misere und des erschreckenden geistigen Tiefstandes der »Führerschaft« seien zwar schmerzlich, aber
»gerade deshalb müssen wir aushalten. Andere Zeiten werden diesen stinkenden Tang hoffentlich mit einer schäumenden Welle
hinwegfegen.« 4
Um sich über all das einmal »richtig ausquatschen« zu können, wollte Rosa Luxemburg Weihnachten bei den Zetkins in Sillenbuch
verbringen.
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