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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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Blicke über die Frühlingslandschaft schweifen. Die »frisch beackerte Erde in
     ihren noblen braunlila Farben« zog sie in ihren Bann. »Ich wollte am liebsten aussteigen, alles, alles vergessen und malen.« 22 Ein verständlicher Wunsch, kam sie sich doch »wie ein armer gehetzter Hase« 23 vor, war zwischen den Versammlungen ständig von Genossen und Genossinnen umgeben und fand kaum Muße zum Briefschreiben.
    Um von Breslau nach Bremen zu gelangen, mußte sie quer durch Deutschland reisen, und sie schalt Hans Kautsky, weil er eine
     falsche Verbindung herausgesucht hatte. »Sie sind mir doch ein schönes Individuum! Wollten mich wieder reinlegen mit den Zügen
     und schwindelten da Blaues vom Himmel herunter über zwei Stunden Zeit in Berlin und einen wunderbaren Zug nach Bremen!« 24 Sie mußte umsteigen, und in Berlin-Friedrichstraße blieben ganze 35 Minuten für ein Wiedersehen mit Hans und Luise Kautsky.
    In Bremen bemühten sich um diese Zeit vor allem Alfred Henke und Wilhelm Pieck, Anton Pannekoek und Johann Knief, in die Wahlrechtsbewegung
     Schwung zu bringen. Die »Bremer Bürger-Zeitung« hatte am 16., 17. und 18. März 1910 Rosa Luxemburgs Artikel »Was weiter?«
     und am 4. April »Zeit der Aussaat« veröffentlicht. In einem Kommentar stimmten sie Rosa Luxemburgs Initiative zur Massenstreikdiskussion
     zu. »Aber Genossin Rosa Luxemburg haut unseres Erachtens daneben«, hieß es in den »Taktischen Glossen zur Wahlrechtsfrage«
     weiter, »wenn sie daraus nur den Schluß zieht, die Genossen müssen jetzt überall zur Frage des Massenstreiks Stellung nehmen.
     Keine Bewegung kann durch taktische Diskussionen weitergeführt werden, wenn sie zur Zeit dieser Diskussion abflaut. […] Darum
     auf die Frage: ›Was weiter?‹ diese Antwort: allgemeine Agitation für den Massenstreik in ganz Preußen, Durchführung des Massenstreikes
     an jedem |339| Orte, wo er möglich ist und in dem Moment wo er nötig sein wird.« 25
    Nach den Protestdemonstrationen Tausender Bremer im März 1910 und am Sonntag, dem 3. April, war die Polizei nervös geworden.
     Auf Aushängen warnte die Polizeidirektion Bremen am Morgen des 6. April vor Zuwiderhandlungen gegen das Reichsvereinsgesetz.
     Um 17 Uhr bat Wilhelm Pieck als Bürgerschaftsmitglied die Polizeidirektion um Erlaubnis, die Versammlung eventuell schon um
     19.30 Uhr eröffnen zu können, weil der Saal des Casinos schon um 19 Uhr gefüllt sein dürfte. Er und Henke holten Rosa Luxemburg
     vom Hotel Siedenburg ab; sie trafen aber erst um 20 Uhr ein.
    Hunderte von Besuchern hatten sich Liederbücher mitgebracht und sangen bis zum Beginn des Vortrags, berichtete die »Bremer
     Bürger-Zeitung«. »Mit einer Ovation wurde die Genossin Luxemburg begrüßt. Man fühlte es: So gibt sich die Arbeiterschaft denen,
     denen sie uneingeschränkt vertraut. Mit den Eingangsworten ihres Vortrags hatte die Rednerin sich bereits alle Herzen erobert.« 26
    »Als ich heute vom Bahnhof in die Stadt ging«, begann sie ihre Rede, »fiel mein Blick zufällig auf eine Anschlagsäule. Dort
     erblickte ich ein Blatt gelbes Papier, das mich ungemein anheimelte (Heiterkeit). Kaum hatte ich das gelbe Blatt Papier gesehen,
     so fühlte ich mich ganz wie in meinem lieben Berlin. (Heiterk[eit].) Was auf dieser großen Litfaßsäule geschrieben stand,
     war die schöne Revolutionssprache des Polizeipräsidenten v. Jagow, nur im republikanischen Bremer Deutsch (Heiterkeit). Hier
     muß ich eine kleine historische Erinnerung auskramen. Der Demokrat Ludwig Börne hat 1820 in seinen Pariser Briefen scherzhaft
     die Preisfrage aufgeworfen, weshalb der alte reaktionäre deutsche Bund, der bis auf die Knochen monarchisch war, für die Hansestädte
     die republikanische Verfassung bestehen lassen habe. Börne sagte, der alte Bund habe das getan, damit durch die Beispiele
     der Hansestädte die republikanische Staatsverfassung vor aller Welt lächerlich und verächtlich gemacht werde. Es scheint,
     als ob die Erklärung Börnes nach 90 Jahren ihre Wahrheit und Frische nicht verloren hat. Es bestätigt sich auch hier einmal
     wieder die alte Erfahrung, daß niemand so sehr bestrebt ist, die Sache der Sozialdemokratie zu |340| fördern, wie unsere grimmigsten Feinde.« 27 Der Beifall für Rosa Luxemburg war am stärksten, als sie auf das bedeutsamste Machtmittel des Proletariats, den politischen
     Massenstreik, verwies. Ihre Polemik richtete sich nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch gegen den

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