Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
aufreibenden und verletzenden Auseinandersetzungen geprägt, die für die nächste Zeit
nicht viel Erfreuliches verhießen.
Gelang es ihr, der Politik für einige Tage oder Stunden zu entrinnen, las sie Romane der Weltliteratur, ging ins Konzert oder
Theater, genoß Besuche von Hans Diefenbach und dessen Freund Gerlach, von Hans und Luise Kautsky, Clara und Kostja Zetkin,
den Geschwistern Berta und August Thalheimer. Vom 18. Oktober bis in die erste Novemberwoche 1910 weilte sie mit Kostja Zetkin
in Bastia auf der Insel Korsika. »Dort vergißt man Europa, wenigstens das moderne Europa«, schrieb sie später an Sophie Liebknecht.
»Denken Sie sich eine breite, heroische Landschaft mit strengen Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felskuppen
von edlem Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume. Und über allem eine vorweltliche Stille –
keine Menschenstimme, kein Vogelruf, nur ein Flüßchen schlickert irgendwo zwischen Steinen, oder in der Höhe raunt zwischen
Felsklippen der Wind – noch derselbe, der Odysseus’ Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau zur Landschaft.
[…] Ich war jedesmal so ergriffen, daß ich unwillkürlich in die Knie sinken wollte, wie ich’s immer vor vollendeter Schönheit
muß. Dort ist noch die Bibel lebendig und die Antike.« 112 In Briefen an Kostja Zetkin gefiel sich Rosa Luxemburg auch wieder im Plaudern.
Seit er des öfteren seine Mutter bei der Herausgabe der »Gleichheit« unterstützte, kam zu den Themen Wetter, Malen und Modellieren
das Redigieren von Zeitungen und Zeitschriften hinzu. Wenige Tage nach Tolstois Tod hatte Rosa Luxemburg am 29. November 1910
über den »genialen Romanschriftsteller und bewundernswerten sozialen Denker« 113 an der Parteischule einen Vortrag gehalten: »Dudu, Liebling […]. Es gab eine Diskussion, und die Sache dauerte bis 12, um
eins kam ich nach Hause und bin heute zerschlagen. Hannes [Diefenbach |372| ] war dort mit. Heute sprach ich zufällig mit Korn, der nach der Schule kam, ob er über Tolstoi in der ›Arbeiter-Jugend‹ etwas
bringe. Nein, sagte er, er möge solche ›Festartikel und Gelegenheitsartikel‹ nicht. Ich sagte, das sei doch nicht ›Gelegenheit‹,
sondern einfach die Pflicht, den Jungen den Tolstoi vorzuführen. Eben das ginge nicht, meinte er, »man könne doch jungen Leuten
eine ›Anna Karenina‹ nicht empfehlen, weil da ›zu viel von Liebe‹ sei«. Als sie diesen Dialog mit Korn, dem Redakteur der
»Arbeiter-Jugend« wiedergab, wählte sie drastische Worte: Sie habe mit Wut auf den Tisch geschlagen und gesagt, »solche Ansichten
wundern mich nicht bei Knoten, [wohl] aber bei Leuten, die sich für Spezialisten von ›Kultur‹ und ›Kunst‹ hielten, da antwortete
er: Tolstoi habe eben nichts gemein mit Kultur und mit Kunst. Soll man da nicht platzen? Wenn ich bloß diese rote Fratze aus
Holz und diesen dicken Überzieher auf der kurzen Figur sehe, die in ihrer Unbeweglichkeit wie eine Pißrotunde auf der Straße
wirkt. Verdammtes Volk von Knoten, diese ›Erben der klassischen Philosophie‹! Und Wendel soll in der Frankfurter ›Volksstimme‹
einen Artikel über T[olstoi] geschrieben haben, ungefähr mit der Beleuchtung: junge Hure – alte Betschwester! […] Ach, mir
ist manchmal hier schrecklich zumute, und ich möchte am liebsten fort aus Deutschland. In irgendeinem sibirischen Dorf spürt
man mehr Menschentum als in der deutschen Sozialdemokratie.« 114
Habe manches gelernt und erfahren
In bestimmten Zentren der deutschen Arbeiterbewegung, z. B. am Niederrhein, im Ruhrgebiet, in Sachsen, Oberschlesien, Bremen
und Hamburg, besaß Rosa Luxemburg festen Rückhalt. Am 1. Oktober 1910 hatte sie in Hagen auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung
des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes über den politischen Massenstreik und die Gewerkschaften gesprochen. »Selbst auf der
Straße wurden der Genossin Luxemburg noch begeisterte Ovationen zuteil, und ihr Weg nach dem Hotel glich einem wahren Triumphzuge«,
hieß es im Bericht der »Leipziger Volkszeitung«. »Der Verlauf der Versammlung und die Stimmung der Versammelten hat gezeigt, |373| daß die Hagener Arbeiterschaft über die Frage des Massenstreiks sich ein anderes Urteil erlaubt als wie es in manchen Kreisen
der Gewerkschaftsführer zu verzeichnen ist. Auch dürfte es u. E. nicht allzu oft vorkommen, daß, wie hier der Fall zu
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