Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
auch über ihr großes Interesse für Kunstfragen und für die Schönheiten der Natur. Jedesmal, wenn ich sie zur Bahn
begleitete, schwärmte sie von der Schönheit der gotischen Kirche in der Nähe des Solinger Bahnhofs, und wenn ich mich hin
und wieder nachmittags freimachen konnte, erging sie sich mit meiner Frau und mir in der freien Natur, wobei sie trotz ihres
Hüftgelenkfehlers gern abseits der Wege herumsprang und wie ein Kind sich über jede Blume freute.« 125
Die Auseinandersetzung mit Schloßmann hatte sechs Stunden gedauert. Rosa Luxemburg war tags darauf noch aufgewühlt von der
»großen« Redeschlacht mit den rheinischen Freisinnsgrößen. »Die Versammlungen haben überhaupt gut gewirkt und unseren Leuten
viel Mut und Lust gegeben,« 126 heißt es in einem Brief an Kostja Zetkin. Und zwei Wochen nach ihrer Rückkehr bekräftigte sie noch einmal, »daß man hauptsächlich
in Volksversammlungen etwas ausrichten kann, dort hat man wirkliche Masse vor sich« 127 . Schon standen ihr neue Versammlungen in Danzig, Ludwigshof bei Königsberg und in Elbing bevor. »Es geht hier mit der Bewegung
rasch vorwärts, wenn die Kerle in Berlin doch mehr Fühlung mit der Provinz hätten, dann würde in ihnen ein anderer Zug stecken« 128 , schrieb sie aus Danzig am 14. Juni. Und sie gestand Kostja Zetkin, daß ihr »Herz zuckte« beim Anblick der Weichsel, »an
der ich meine Kindheit verbracht; die ganze Gegend hier erinnerte mich an Polen – flache, breite Horizonte, viel Getreidefelder
und Wald, im Feld lauter Weiber in bunten Röcken und weißen Kopftüchern tief überm Gesicht, massenhaft Gänse und viel schwarzweiße
Kühe. Auf den Stationen verkauften Dorfkinder Sträuße aus einfachen Blumen, wie sie in Bauerngärtlein wachsen. Ich kaufte
mir natürlich gleich einen solchen Kolben und führe ihn mit.« 129
Festigten diese Eindrücke ihren Entschluß, eine neue Wohnung zu mieten, »in einer ganz stillen Straße mit viel Bäumen, im
neuen Hause mit Warmwasserversorgung (ohne Zentralheizung)«? Ab 1. September 1911 jedenfalls lautete ihre Adresse: Südende
bei Berlin, Lindenstr. 2, II 1. »Alles fünf Minuten |376| von der Bahn (zehn Minuten Fahrt zum Potsdamer Platz) und von der Elektrischen nach Steglitz und nach Lichterfelde.« 130 Auf dem zehn Minuten entfernten Teltower Kanal konnte man mit Passagierdampfern nach Potsdam fahren. Die fünf Zimmer mit
Küche boten viel Bewegungsfreiheit, für die Bibliothek und selbst für Katze Mimi gab es einen gesonderten Raum. Bevor sie
zur »Sachsengängerei« ansetzte, einer großen Wahlkampftour durch Sachsen vom 1. bis 12. Dezember 1911, bestätigte sie Kostja
Zetkin: »Ich bin so wohl hier in der Wohnung; […] es ist so still hier, das Auge ruht aus auf dem breiten, flachen Feld mit
den Silhouetten von Gebäuden und Fabriken in der Ferne, die jetzt meist bläulich-neblig aussehen. Auch die peinliche Sauberkeit
in der Wohnung tut mir wohl. Spatzen kommen in Scharen zweimal täglich zum Futter, wissen genau ihre Stunde und zanken sich
dabei mit offenen Schnäblein und ausgebreiteten Flügeln. Mimi klappert mit [den] Zähnen und regt sich jeden Tag auf.« 131 Doch ehe sich Rosa Luxemburg so beschaulich an ihrem neuen Domizil freuen konnte, hatte sie einige Parteiturbulenzen durchzustehen.
Aber Luft muß ich mir verschaffen
Der Internationale Sozialistenkongreß in Kopenhagen hatte die im Auftrag der Abrüstungs- und Friedenskommission von Georg
Ledebour vorgeschlagene Resolution trotz Meinungsverschiedenheiten einstimmig angenommen. In ihr wurde festgestellt, »daß
innerhalb der letzten Jahre die militärischen Rüstungen trotz der Friedenskongresse und der Friedensbeteuerungen der Regierungen
eine ungeheuerliche Steigerung erfahren haben. Insbesondere das Wettrüsten zur See, dessen jüngste Phase der Bau der Dreadnoughts
ist, bedeutet nicht nur eine Vergeudung der öffentlichen Mittel für unproduktive Zwecke und infolgedessen den Mangel und den
Ausfall von Mitteln für die Aufgaben der Sozialpolitik und der Arbeiterfürsorge, es bedroht auch alle Nationen mit materieller
Erschöpfung durch unerträgliche indirekte Steuerlasten und alle Staaten mit dem finanziellen Ruin. Zugleich wurde gerade durch
diese Rüstungen |377| der Frieden der Welt erst jüngst gefährdet, wie er dadurch immer von neuem gefährdet werden muß.« 132 Die Parlamentarier wurden verpflichtet, die Rüstungen mit allen Kräften zu bekämpfen
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