Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Vorwürfe usw. auskommen? Das verekelt die Arbeit doch so, daß ich mit Schrecken statt
mit Vergnügen an den ›Młot‹ denke. Anfangs ging es angeblich um eine außerordentliche Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit,
jetzt hagelt es schon tags darauf nach einer Nummer Bestellungen für die nächste, und jetzt soll ich schon eine Woche vorher
›überlegen‹, was weiter, statt daß ich eine eindeutige Bestellung bekomme, was ich schreiben soll. Die ›Trybuna‹ und acht
Nummern des ›Mlot‹ sind doch ausgezeichnet ohne mich ausgekommen, aber jetzt bin ich plötzlich unersetzlich! Daß ich schlecht
schreibe, da kann man nichts machen, bei dieser Eile und bei meiner gegenwärtigen Erschöpfung kann ich nicht besser. Gestern
hatte ich wieder eine halbe Stunde lang einen Herzanfall, daß ich mich gleich ins Bett legen mußte.« 103
Als sie wenige Tage später abermals einen umfangreichen Artikel über »Die Arbeiter und die Nationalkultur« verfaßt hatte,
schrieb sie ihrem Mitstreiter: »Ich hatte große Lust, Niem[ojewskis] Fälschungen schärfer vorzunehmen, aber 1. habe ich heute
weder die Kräfte noch ein Konzept, 2. mußte ich die gröberen Ausdrücke selbst streichen, denn dieses ständige Schimpfen hängt
mir selbst schon zum Halse heraus. Man muß sich unbedingt ein wenig mäßigen, denn das wird die Arbeiter anekeln und hört dann
auf zu wirken.« 104
Was hatte es mit dieser Polemik auf sich? 105 In Warschau erschien seit 1906 die politisch-literarische Zeitschrift »Myśl Niepodlegla«, die Positionen des Freidenkertums
und eines |368| unter polnischen Intellektuellen verbreiteten radikalen Nationalismus propagierte. Herausgegeben und redigiert wurde sie von
einem erbitterten Gegner der SDKPiL, dem Schriftsteller und Journalisten Andrzej Niemojewski. In der Nummer 146 vom September
1910 wurde behauptet, die SDKPiL bestehe aus Aufwiegler-Juden und sei »durch Rassen- und Familienbande mit allen Juden verknüpft;
und diese rein anthropologischen Bindungen sind so stark, daß jeder, der irgendeinen Juden ideologisch angreift, sich sofort
einem Bündnis des Talmudjuden, des sozialistischen Juden und des liberalen Juden gegenübersieht«. 106 Die Juden hätten im Jahre 1905 zum Streiken aufgeputscht, um das Blut polnischer Arbeiter zu vergießen.
Rosa Luxemburg griff man in einigen Artikeln auf das widerlichste an. So wertete man ihre Körperbehinderung als ein Beispiel
jüdischer Degeneration. »Die Vorfahren dieser Dame«, hieß es in dem Artikel »Die Deklassierten«, »haben das gemeine polnische
Volk mit Wodka versorgt. Rosa Luxemburg schenkt zwar keinen Schnaps mehr aus, aber was sie dem Volk in Gestalt von Artikeln
und Broschüren zu trinken gibt, hat alle Eigenschaften von literarischem Branntwein … Polen und die polnischen Arbeiter kommen
ohne Meister zurecht, … die uns mit ihrer semitischen Hysterie und ihrem ererbten Haß auf unser Mutterland beglücken.« Nationalgefühl
sei ihr fremd, sie habe dafür nur Hohn und Spott übrig. »Was kann ihr Polen denn bedeuten?« hetzte Niemojewski in dem Text
»Das Ende der luxemburgischen Täuschung«. 107
Die so unflätig Beschimpfte hatte bisher rassistische Verleumdungen ignoriert. »Schweigende Verachtung ist alles, was ich
dafür habe«, schrieb sie 1911 rückblickend. »Und zwar – abgesehen von persönlichem Stolz – aus der einfachen politischen Rücksicht,
daß alle diese persönlichen Beschimpfungen lediglich Manöver sind, um von der politischen Streitsache abzulenken.« 108 Jetzt, wo die Hetze nicht mehr nur ihrer Person galt, konnte sie nicht mehr schweigen und ging zum Gegenangriff über.
In ihrem Schreiben an Vandervelde vom 8. Oktober 1910, das Julian Marchlewski persönlich überbrachte, stellte Rosa Luxemburg
klar, worum es bei der Attacke gegen den ›Młot‹ |369| ging: »Die Existenz einer so eindeutig revolutionären und sozialistischen Wochenschrift hat den Haß unserer Bourgeoisie entfesselt,
und so kämpfen wir seit Wochen gegen die gesamte bürgerliche Presse, die gegen uns blankgezogen hat. Dabei – und das ist am
bemerkenswertesten – kommen die Angriffe gegen uns vor allem von der sogenannten ›fortschrittlichen‹ Presse, von der ›Gedankenfreiheit‹
(›Libre Pensée‹) eines gewissen Niemojewski, der der wütendste Anführer unserer Gegner ist. Und der Gipfel ist, daß diese
›Gedankenfreiheit‹ plötzlich gegen uns die Parole ›Nieder mit den
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