Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
sprachen, gestaltete sich zu einem Höhepunkt der Massenproteste. Waren sie nun alle einig?
Rosa Luxemburg spürte mehr als viele ihrer Freunde, daß an der Krise der deutschen Sozialdemokratie nicht allein der Parteivorstand
und der oder jener Revisionist bzw. Reformist schuld war, sondern auch eine gewisse Trägheit der Mitgliedschaft, die bequeme
Gewöhnung an offizielle Aufforderungen von oben und das geringe Verlangen nach Selbstbestimmung in den örtlichen Parteiorganisationen.
Ein Parteileben, in dem sich Führung und Mitglieder tatkräftig ergänzten, war ihrer Auffassung nach eine entscheidende Voraussetzung
für entschlossenes und realistisches Handeln auf innen- und außenpolitischem Gebiet. Unter der Überschrift »Wieder Masse und
Führer« stellte sie knapp 14 Tage vor dem Jenaer Parteitag ihre Gedanken darüber zur Diskussion: »Der idealste Parteivorstand
einer Partei wie die Sozialdemokratie wäre derjenige, der als das gehorsamste, prompteste und präziseste Werkzeug des Willens
der Gesamtpartei fungierte. Aber der idealste Parteivorstand |389| wird nichts ausrichten können, wird unwillkürlich im bürokratischen Schlendrian versinken, wenn die natürliche Quelle seiner
Tatkraft, der Wille der Partei, sich nicht bemerkbar macht, wenn der kritische Gedanke, die eigne Initiative der Parteimasse
schläft. Ja, noch mehr. Ist die eigne Energie, das selbständige geistige Leben der Parteimasse nicht rege genug, dann haben
ihre Zentralbehörden den ganz natürlichen Hang dazu, nicht bloß bürokratisch zu verrosten, sondern auch eine völlig verkehrte
Vorstellung von der eignen amtlichen Autorität und Machtstellung gegenüber der Partei zu bekommen.[…] Gegen Schlendrian wie
gegen übermäßige Machtillusionen der Zentralbehörden der Arbeiterbewegung gibt es kein andres Mittel als die eigne Initiative,
eigne Gedankenarbeit, eignes frisch pulsierendes politisches Leben der großen Parteimasse.« 170
Der Vorstand brachte vor dem Parteitag eine Broschüre über den Marokkokonflikt in Umlauf, in der Rosa Luxemburgs Anliegen
arg diffamiert wurde. »Indiskretion«, »Irreführung«, »Illoyalität« lauteten die Vorwürfe. »Mich berühren alle diese Kläffereien
wenig«, schrieb sie an Kostja Zetkin, »ich habe nur kalte Verachtung dafür, und ein Kämpfer muß ja das alles ruhig vertragen
können.« 171
Es war schwer, ihre Position in der Marokko-Angelegenheit zu verteidigen, da ihre Gegner behaupteten, den Frieden zu wollen
und diesbezüglich nichts versäumt zu haben. Zudem billigte auch August Bebel, der z. B. Rosa Luxemburgs Tätigkeit an der Parteischule
hochschätzte, die Haltung des Vorstandes und betrachtete ihre kritischen Artikel als Verdrehung der Tatsachen. Er war gekränkt
und verärgert, hatte ihr jedoch intern eine Information zukommen lassen, daß einige Delegierte sie und andere Linke der Konspiration
gegen den Parteivorstand bezichtigen wollten. 172 Schließlich schien die vorübergehende Abschwächung der Marokkokrise den Zauderern im Parteivorstand recht zu geben.
Die Diskussion ging weiter, und man wartete gespannt, wie sich die Auseinandersetzungen auf dem Jenaer Parteitag fortsetzen
würden, der vom 10. bis 16. September 1911 stattfinden sollte. Die Tagesordnung wies zahlreiche Diskussionspunkte aus: Gewerkschaftsprobleme,
die Kandidatur für den an Stelle des verstorbenen Paul Singer neu zu wählenden Parteivorsitzenden, |390| Veränderungen am Organisationsstatut und vor allem die Planung des Reichstagswahlkampfes. Obwohl Rosa Luxemburg mit vielen
ihrer Mitstreiter korrespondiert und gesprochen hatte und die »Magdeburger Sieben« aktiv gewesen waren, vermochten die Linken
dennoch nicht geschlossen für eine Position zu plädieren.
Rosa Luxemburg sprach als erste in der Diskussion zum Geschäftsbericht des Vorstandes. Sie ging auch auf die Marokkofrage
ein, obgleich ihr der Vorsitzende Heinrich Dietz empfohlen hatte, sich nicht vor der für den nächsten Tag erwarteten ausführlichen
Stellungnahme August Bebels zu diesem Thema zu äußern. Mit Rosa Luxemburg forderten besonders Robert Dißmann, Wilhelm Dittmann,
Alfred Henke, Gustav Hoch, Georg Ledebour, Paul Lensch, Karl Liebknecht, Heinrich Laufenberg und Clara Zetkin eine offensive
Friedenspolitik der Partei und einen aktionsfähigeren Parteivorstand. In einem Zusatzantrag zum Resolutionsvorschlag des Parteivorstandes
verlangten Rosa Luxemburg, Gustav Hoch und Clara
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