Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
schon herauskitzeln zu einer öffentlichen Auseinandersetzung« 187 . Tatsächlich scheute Rosa Luxemburg vor niemandem zurück, wenn sie meinte, im Recht zu sein. Unterwürfigkeit und Schmeichelei
gegenüber Autoritäten waren ihr völlig fremd. Es machte ihr nichts aus, »in den Wahlkreisen ärgster Opportunisten« aufzutreten.
Der Verdacht, sie würde sich »durch irgendeinen ›Groll‹ davon abhalten lassen«, für jemanden zu agitieren, mit dem sie polemisiert
hatte, empörte sie. 188
Rosa Luxemburg beteiligte sich nicht zuletzt deshalb so intensiv am Wahlkampf, weil sie über das Ergebnis und dessen Auswertung
für die künftige Arbeit der Sozialdemokratie gehörig mitdiskutieren wollte. In ihren Artikeln »Was nun?«, »Unsere Stichwahltaktik« 189 und in Reden, besonders am 1. März 1912 in Bremen und am 31. März in Berlin 190 , äußerte sie sich ausführlich zum Wahlsieg. Immerhin hatte die deutsche Sozialdemokratie 4 250 399 Stimmen, d. h. 29,4 Prozent der Wählerstimmen im Deutschen Reich erhalten, stellte nunmehr mit 110 Abgeordneten die stärkste
Fraktion, zu deren Vorsitzenden August Bebel, Hugo Haase und Hermann Molkenbuhr gewählt wurden.
|395| Der bürgerliche Sozialreformer Gustav Schmoller erwartete, daß die Sozialdemokratie »mit jedem Jahr praktischer Mitarbeit
[…] an der laufenden Staatsverwaltung […] einen oder zwei ihrer revolutionären Giftzähne« verlieren werde. 191 Da Rosa Luxemburg ebenfalls ein Ausbreiten des Sozialreformismus befürchtete, forderte sie energisch, den Sieg im Geiste
bewährter Tradition revolutionärer sozialdemokratischer Parlamentsarbeit zu nutzen. Statt um den Beweis »staatsmännischer
Kunst«, um den es manchen Abgeordneten mehr als um alles andere gehe, käme es auf die »Offensive auf der ganzen Linie« an,
und zwar »im preußischen Wahlrechtskampf, im Kampfe gegen Imperialismus, im Kampf um billiges Brot und in der positiven Arbeit
der Sozialpolitik! Beispiellos wie unser Wahlsieg muß die Entschlossenheit und Schärfe unserer parlamentarischen und außerparlamentarischen
Aktion sein.« 192 Den Vorstand kritisierte sie erneut heftig, weil er sich in einem Geheimabkommen mit der Fortschrittlichen Volkspartei verpflichtet
hatte, den Wahlkampf zu den Stichwahlen in 16 Wahlkreisen zu dämpfen. Diesen ausschließlich auf Mandatsgewinn ausgerichteten
Wahlschacher prangerte Rosa Luxemburg ebenso rückhaltlos an wie die vom Vorstand und nicht wenigen Presseorganen geschürten
parlamentarischen Phantastereien.
Prompt setzte Anfang März im »Vorwärts« erneut ein Verleumdungsfeldzug gegen sie ein. Bis hierher und nicht weiter, rief Rosa
Luxemburg unter stürmischem Beifall auf der Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und
Umgegend am 31. März aus. Sie forderte die Sozialdemokraten auf, »den Massen klaren Wein einzuschenken und alle Illusionen
beiseite zu schieben, die sich etwa an unseren Wahlsieg unmittelbar knüpfen könnnten« 193 . Auch 110 Abgeordnete könnten an der Gesellschafts- und Machtstruktur des Deutschen Reiches generell nichts ändern, solange
der Kapitalismus die Wirtschaft und Politik beherrsche. Auch das Parlament sei letzten Endes ein Instrument im bürgerlichen
Staat.
|396| Etwas kühles Blut könnte nicht schaden
Weihnachten und Neujahr verlebte Rosa Luxemburg bei der Familie Zetkin in Sillenbuch. Endlich konnten sie und Kostja ihren
Briefdialog über Kunst und Literatur mündlich fortsetzen. Beide schenkten einander viele Bücher oder tauschten Neuerscheinungen
aus. Sie lasen ungewöhnlich viel: moderne und historische Romane, Biographien und Reiseliteratur, Bücher über die Geschichte
Spaniens und über China, das mit seinen kulturellen Besonderheiten und durch die 1911 begonnene Revolution ihre Neugier weckte.
Rosa Luxemburg gefiel die »unliterarische« Autobiographie von Joachim Nettelbeck und Ludwig Rellstabs »Aus meinem Leben«.
Auch dessen Buch »1812« ließ sie auf sich wirken. Ungeniert gestand sie: »So anspruchsloser Schund ist mir viel lieber als
ein prätentiöser Schund mit ›Ideen‹ wie Zola.« 194 Sie griff zu Büchern von Max Eyth, Henry Maine, George Meredith, Edgar Allan Poe. Kostja überraschte sie mit dem gerade erschienenen
Roman »Madame d’Ora« des Dänen Johannes Wilhelm Jensen und mit der neuesten Publikation von August Strindberg, den sie trotz
»mancher feiner Stelle« für verrückt hielt. 195 Fast
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