Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Zetkin auf der Grundlage der Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses
von 1907 schärfere Formulierungen gegen Kriegshetze, Wettrüsten und Kolonialpolitik sowie eine stärkere Orientierung auf Massenaktionen
gegen Krieg. Die Partei sollte sich auch einer Erweiterung des Kolonialbesitzes auf »friedlichem« Wege widersetzen, den imperialistischen
Krieg generell bekämpfen und nicht nur militärische Konflikte zwischen den zivilisierten europäischen Großmächten. Die Interessen
der eingeborenen Völker auf den anderen Kontinenten dürften nicht übergangen werden. 173
Der Reichstagsabgeordnete Eduard David würgte jegliche Debatte ab: Die Resolution des Parteivorstandes besage alles, und über
ein Amendement, das nicht gedruckt vorliege, ließe sich nicht beraten. 174 Auch Karl Liebknechts Einspruch konnte die Regie des rechten Flügels der Delegierten nicht unterlaufen: durch Mehrheitsbeschluß
wurde die Auseinandersetzung beendet und Bebels Resolution einstimmig angenommen. 175 Der Demokratie war Genüge getan. In der von ihm herausgegebenen antimilitaristischen Zeitschrift »Die Aktion« vom 18. September
1911 urteilte Franz Pfemfert treffend: »In jeder Rede, die dort gehalten wurde, war die korrumpierende |391| Wirkung des Parlamentarismus zu spüren. Doch die deutsche Sozialdemokratie täusche sich nicht über die Folgen dieser Taktik!
In Jena mußten die Ehrlichen, die Luxemburg, Liebknecht, wollten sie nicht als Krakeeler und ›Anarcho-Syndikalisten‹ verschrien
werden, resignieren. Die Zukunft aber wird ihnen recht geben. Die Zukunft wird zeigen, daß eine sozialistische Partei verloren
ist, wenn sie unwahrhaftig wird. Das Jena, das die Ehrlichkeit jetzt erlitt, wird zum Jena der deutschen Sozialdemokratie
werden.« 176
Trotz dieser Niederlage war Rosa Luxemburg nicht unzufrieden. Der »künstlich konstruierte Fall Luxemburg« 177 habe die sachliche Berechtigung ihrer Kritik nicht verdunkelt. Es sei nützliche Arbeit geleistet worden, schrieb sie an Kostja
Zetkin, er solle nicht so pessimistisch sein. Sie überschätzte die Wirkung ihrer Kritik am Vorstand und besaß wie fast alle
Delegierten keine hinreichend realistische Vorstellung vom Kräfteverhältnis der verschiedenen Strömungen in der nunmehr fast
eine Million Mitglieder zählenden Partei. Weder erkannte sie das Ausmaß der in der deutschen Sozialdemokratie schwelenden
Krise, die in erster Linie mit der zunehmenden Verselbständigung ihrer Gremien, besonders der Reichstagsfraktion, mit dem
Führungsstil der wenigen hauptamtlichen Funktionäre und mit dem biologisch herangereiften Generationswechsel zusammenhing,
noch konnte sie die sich daraus ergebenden Gefahren für die internationale sozialistische Bewegung absehen.
Rosa Luxemburg hoffte darauf, daß die Verschärfung des Klassenkampfes, der gesunde Menschenverstand der Massen, die Entschlossenheit
der Mehrheit der Mitglieder sowie die theoretische Überlegenheit der Linken die Sozialdemokratie vor einem Rechtsruck bewahren
und diejenigen ausgrenzen würde, die sich weder an Parteiprogramm noch wichtige Parteitagsbeschlüsse hielten. Durch die Erlebnisse
während der Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros wenige Tage nach dem Jenaer Parteitag wurde sie in dieser Auffassung
bestärkt.
|392| Nie politische Fragen
in persönlich-sentimentale verwandeln
Am 21. September 1911 erhielt Rosa Luxemburg ein Telegramm von Camille Huysmans: »Bürositzung Volkshaus Zürich 2 Uhr Samstag
23.« Da wegen der Reichstagswahlen der Halbjahreskursus 1911/12 an der Parteischule ausfiel, hatte Rosa Luxemburg ihre wichtigste
Einnahmequelle verloren und mußte Leo Jogiches bitten, daß der Hauptvorstand der SDKPiL seiner Vertreterin im Internationalen
Büro die Fahrt bezahle. Außerdem müsse Lenin verständigt werden, »damit er unbedingt dort ist« 178 . Mit ihr fanden sich Deputierte aus 14 Nationen ein; unter ihnen Vaillant, Longuet, Bebel, Molkenbuhr, Adler, Quelch, Vandervelde,
Huysmans, Anseele, Plechanow, Lenin, Nemec, Troelstra, Moor. 179 Mit Ausnahme Spaniens waren alle unmittelbar vom Marokkokonflikt betroffenen Länder vertreten. Viereinhalb Stunden währte
die Debatte, in der Lenin u. a. einen Mißtrauensantrag der deutschen Delegation gegen Rosa Luxemburg und Angriffe auf ihren
Standpunkt abzuwehren half. 180
Rosa Luxemburg interessierte selbstverständlich, ob das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen
Weitere Kostenlose Bücher