Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
ringen muß, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen
Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft
gewährt« 264 . Dabei könnte es zu Irrtümern oder Fehlern kommen, aber versuchen und verteidigen müsse man eine solche Herangehensweise,
um in einer sich ständig verändernden Welt nicht im Dogmatismus zu versacken.
|422| So muß ich immer etwas haben,
was mich mit Haut und Haar verschlingt
Bald nach den Frühjahrsferien in Clarens am Genfer See gab sich Rosa Luxemburg plötzlich einer neuen Leidenschaft hin. Am
10. Mai 1913 legte sie die erste Mappe für ein Herbarium an, die am 20. Mai bereits mehr als 20 Blatt enthielt. Im Jahre 1908
fing sie mit Feuereifer zu malen an, jetzt hatte sie »einen anderen Rappel«, erinnerte sie sich später. »In Südende packte
mich die Leidenschaft für Pflanzen; ich fing an zu sammeln, zu pressen und zu botanisieren. Vier Monate machte ich buchstäblich
nichts anderes, als im Feld schlendern oder zu Hause zu ordnen und zu bestimmen, was ich von den Streifzügen mitbrachte. […]
So muß ich immer etwas haben, was mich mit Haut und Haar verschlingt, sowenig sich das für eine ernste Person ziemt, von der
man – zu ihrem Pech – immer etwas Gescheites erwartet.« 265 Im August 1913 besaß sie bereits 10 solcher Mappen, auf allen ist vermerkt, aus welchem Zeitraum das Sammelgut stammt. Während
ihrer Gefängnisaufenthalte im Krieg hat sie weitere angelegt, insgesamt sind 18 mit jeweils ca. 20 Blatt erhalten geblieben.
Sie dokumtieren, mit welcher Hingabe sie diesem Hobby nachging und Botanikbücher exzerpierte, um Pflanzen bestimmen und eingruppieren
zu können. In der Beschriftung tauchen meist die deutschen und lateinischen Namen des gepreßten Exponats auf. Nicht selten
ergänzen Zeichnungen fehlende bzw. zerbröckelte Teile. Auf manchem Blatt ist vermerkt, woher der Stengel, das Blatt oder die
Blüte stammten. Häufig preßte Rosa Luxemburg Blumen aus geschenkten Sträußen. Im Sommer 1913 sandte Kurt Rosenfeld ihr z.
B. den deutschen Enzian, die geknäuelte Glockenblume oder das gefleckte Knabenwams aus der Sommerfrische in Schönberg bei
Innsbruck zu.
Rosa Luxemburg erfreute sich an den mannigfaltigen und rätselhaften Gebilden und am farblichen Nuancenreichtum der Natur.
Alle Sinne wurden für die neue Leidenschaft aktiviert. Keine Wiese, kein Feld und keinen Wald durchstreifte sie, ohne Neues
in der Natur zu entdecken, Gräser, Blumen oder Zweige wenn möglich mit nach Hause zu nehmen. Sie betrieb aufwendige Pflanzengeographie
und übertrug ihre Begeisterung |423| für Herbarien auf ihre Umgebung, selbst auf die Hausgehilfin Gertrud Zlottko, die auch gern malte.
Kaum war Rosa Luxemburg am 3. August 1913 bei den Zetkins in Degerloch bei Stuttgart angekommen, ging eine Sendung an Gertrud
Zlottko ab, denn sie hatte bereits bei ihren ersten Spaziergängen mehrere neue Pflanzen entdeckt. Am 4. August wollte sie
von ihr schon wissen, ob die Schachtel angekommen und wie der Zustand des Inhalts bei der Hitze ist.
Sachkundig erklärte sie Freundinnen und Freunden, was sie ihr für Schätze überreichten, wenn sie ihr Blumensträuße schenkten.
Auch im Gefängnis notierte sie, was sie entdeckte und beobachtete, vieles davon floß in ihre Briefe ein. Für Mathilde Jacob
z. B., die ab 1913 für Rosa Luxemburg Schreibarbeiten erledigte und bald eine ihrer vertrautesten Freundinnen wurde, erklärte
sie: »Die kleineren gelben mit der braunen samtigen Mitte, das ist der Alant (Inula Helenium), die großen gelben, die der
Sonnenblume ähnlich sind, das ist Topinambur (Helianthus tuberosus), endlich die winzigen gelben in den vielen Trauben, so
schön duftend, das ist die Kanadische Goldrute (Solidaco Virgaurea), alle drei aus der Familie Kompositen. Die wundervoll
gelbrot gefärbten Blättchen sind natürlich von einer Eberesche, der blutrote Zweig ist ein Prunus oder ›Türkische Kirsche‹,
Zierstrauch aus der Familie der Rosazeen; endlich der Zweig mit den ganz schmalen, unten silbrigen, oben dunkelgrünen Blättchen
ist ein weidenblättriger Sanddorn. Die Farben der Astern sind unaussprechlich schön – ein echtes Herbstgemälde der ganze Strauß.« 266
Daß Mathilde Jacob für die Botanik Interesse bewahrte, freute Rosa Luxemburg sehr. Sie schrieb ihr 1915: »Ich kenne ziemlich
alle neueren Atlanten, sie
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