Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
lang vorbereitete Aktion endete
trotz der kämpferischen Energie der Streikenden erfolglos, da die Führer an der Allianz mit dem Liberalismus festhielten und
parlamentarische Illusionen nährten. Rosa Luxemburg schlußfolgerte: »Das Entscheidende in jeder Massenbewegung ist die revolutionäre
Energie der Massen und die entsprechende Entschlossenheit und Zielklarheit ihrer Führer. Diese beiden Momente zusammen können
unter Umständen die größten materiellen Entbehrungen der Arbeiterschaft unfühlbar machen, über sie hinweg die größten Taten
vollbringen. Sie können hingegen nicht umgekehrt durch gefüllte Hilfskassen ersetzt werden.« 276 Die Belgier allgemein zu bewundern mache wenig Sinn. Auch in Deutschland sollte es vielmehr heißen: »Hier hilft kein Mundspitzen,
hier muß gepfiffen werden!« 277
Sie fragte Kautsky, der vor Jahren noch selbst von der rechten |428| Seite als Russenschwärmer und revolutionärer Romantiker denunziert worden war, ob er keine Skrupel habe, sich jetzt gegen
die »russische Methode« zu wenden und sie als Inbegriff der Unorganisiertheit, der Primitivität, des Chaotischen und Wilden
im Vorgehen zu diffamieren? 278
Daß Kautsky trotz der Mitwirkung vieler Nichtorganisierter bei Aktionen an dem konstruierten Gegensatz zwischen der organisierten
Vorhut und der übrigen Masse des Proletariats festhielt, kritisierte sie ebenfalls scharf: »Mit der Behandlung der Unorganisierten
als des feigen Janhagels verschüttet man sich das Verständnis sowohl für die lebendigen historischen Bedingungen der proletarischen
Aktion wie für die Organisation und ihres Wachstums.« 279 Der Standpunkt, man müsse den Massen erst durch »positive« Arbeit mit erkennbaren Resultaten im Reichstag die Bedeutung eines
allgemeinen Wahlrechts demonstrieren, bevor man sie für außerparlamentarische Kämpfe gegen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht
in Preußen gewinnen könne, sei für die Sozialdemokratie undiskutabel. Rosa Luxemburg prangerte den »in der stillen Denkerstube«
ausgeklügelten Plan als »opportunistische Spekulation auf einen sozialreformerischen Altweibersommer des Reichstags und auf
opportunistische Köderung der Massen durch ›positive‹ parlamentarische Arbeit« 280 an.
Kautskys Marx-Verständnis empörte sie nicht weniger: »In Marxens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter
der Aktion einherzugehen und für alles, was von den ›obersten Behörden‹ der Sozialdemokratie jeweilig getan und gelassen wird,
einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei führend vorauszugehen, um
die Partei zur ständigen Selbstkritik anzustacheln, um Mängel und Schwächen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere
Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.« 281 Immerhin schrieb der so prinzipiell Kritisierte Rosa Luxemburg, daß die »Neue Zeit« die Polemik gegen ihn abdrucken werde.
»Er kläfft, aber schließlich ist er einverstanden, meine Entgegnung anzunehmen.« 282 , teilte sie Jogiches zufrieden mit.
Da im Resolutionsentwurf des Parteivorstandes die Hauptsache, |429| die offensive Taktik, nicht angesprochen wurde, entwarf Rosa Luxemburg selbst einen Massenstreikantrag. Als im Parteiausschuß
am 4. September 1913 vereinbart wurde, den Massenstreik nicht als gesonderten Punkt auf die Tagesordnung des Parteitages zu
setzen und jedwede Änderung am Resolutionsentwurf des Vorstands abzulehnen, war Rosa Luxemburg auf eine neue großangelegte
Kampagne gefaßt. Der Generalangriff ging am 15. September von Philipp Scheidemann aus, der sich nicht zuletzt auf die Autorität
von August Bebel berief und schließlich erklärte: »Wir kennen die Massen besser als diejenigen, die die revolutionären Artikel
schrieben, mit denen man aber keine Massenbewegung machen kann.« 283 Rosa Luxemburg durfte am nächsten Tag ihre Position zum politischen Massenstreik in einer halbstündigen Rede darlegen. »Wie
es scheint, habe ich sehr gut gesprochen« 284 , berichtete sie Leo Jogiches. Ihr Resolutionsentwurf erhielt zwar 80 Stimmen mehr als auf dem Magdeburger Parteitag, wurde
aber mit der klaren Mehrheit von 333 zu 142 Stimmen abgelehnt. Außerdem sanktionierte der Parteitag die opportunstische Haltung
der Reichstagsfraktion zur Vorlage für die weitere Finanzierung der Aufrüstung. Dieser offizielle Rechtsruck der Sozialdemokratie
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