Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Klassengegensätze
«, stellte Rosa Luxemburg fest, »die auf allen Gebieten zutage tritt: in den Gewerkschaftskämpfen, in den Parlamenten, in
den Vorstößen des Militarismus, in der steigenden Kriegsgefahr, in der Bedrohung des Koalitionsrechts, im Stillstand der Sozialreform,
im reaktionären Verfall der bürgerlichen Oppositionsparteien – dies ist es, was in den weitesten Kreisen der Arbeiterschaft
jetzt eine lebhafte Beunruhigung und den Gedanken an schärfere Kampfwaffen rege gemacht hat.« 272
Mit ihr forderten einflußreiche Linke und andere revolutionäre Sozialdemokraten wie Peter Berten, Heinrich Laufenberg, |426| Georg Ledebour, Karl Liebknecht, Anton Pannekoek, Friedrich Westmeyer, Clara Zetkin, das Verhältnis zwischen Führern und Massen
zu überdenken und der Massenaufklärung und -mobilisierung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Partei dürfe sich nicht
von den Ereignissen treiben lassen, sondern müsse die Interessen der Bürger aktiver vertreten. Nahezu alle Sozialdemokraten,
die sich 1913 zum politischen Massenstreik äußerten, ganz gleich, ob sie ihn befürworteten oder ablehnten, behaupteten, sich
auf den Willen der Massen zu stützen. Eduard Bernstein, Ludwig Frank und Philipp Scheidemann schränkten ein, der politische
Massenstreik käme nur für die preußische Wahlrechtsbewegung in Betracht. Außerdem hinge seine Anwendung von der Zustimmung
der Gewerkschaftsführer ab. Vorläufig sollten sich alle wie bisher auf die Stärkung der Organisation und der Disziplin konzentrieren.
Dagegen verteidigte Rosa Luxemburg in der Auseinandersetzung mit Vertretern des rechten Flügels, die ihren Standpunkt als
Ketzerei diffamierten, eine offensive Taktik der gesamten Partei. Wie Karl Liebknecht, Anton Pannekoek und Clara Zetkin entwickelte
sie in Artikeln und Reden Grundsätze des Verhältnisses zwischen Führern, Organisationen und Massen: Nur durch eine zielklare
und revolutionäre Politik könne der Mut der Massen gestählt und die Bewußtheit der Handelnden vertieft werden. Selbstverständlich
verkörpere die Partei zunächst die Minderheit der bewußten Vertreter der Arbeiterklasse. In dem Maße, wie sie entschlossen
echte Volksinteressen verfechte, repräsentiere sie aber als Minderheit objektiv die Mehrheit. Die Partei sei das denkende
und leitende Hirn sowie das feste organisatorische Rückgrat künftiger Massenbewegungen. Die Rücksichtnahme auf Reaktionen
des Klassengegners dürfe nicht zur Stagnation und zum Rückwärtsgang in der Parteipolitik führen. Vielmehr müsse man den Gegner
durch Massenaktionen zu Zugeständnissen zwingen und ihm Niederlagen beibringen. Auf ein Grundanliegen von August Bebel verweisend,
erklärte Rosa Luxemburg: »Ich glaube, die erste Voraussetzung für ernste politische Führer, die dieses Namens wert sind, die
Führer einer Millionenpartei, einer Massenpartei wie die unsrige sind, ist ein überaus empfindliches Ohr für alles, was sich
regt in der Seele der Massen.« 273
|427| Da Karl Kautsky die Massenstreikdebatte zu dämpfen versuchte und vor »Abenteuern«, »Handstreichen« und »Quertreibereien« warnte,
stellte Rosa Luxemburg ihn bloß: Er wittere »Syndikalismus, Blanquismus, ›revolutionäre Gymnastik‹, […] er denunziert ›unsere
Russen‹, die jeglicher Organisation feind seien und die eifrig daran arbeiteten, den Massen den Kampf um parlamentarische
Rechte zu verekeln.[…] Sämtliche Gefahren, gegen die Kautsky zu Felde zieht, sind nichts als Windmühlen seiner eigenen Einbildungskraft.« 274 Die Zahl der Bösewichter, die taktische Initiativen und damit den politischen Massenstreik erörterten, sei »erschreckend«
groß. »Dann bestehen die Organisationen in Stuttgart, Essen, Solingen, im ganzen niederrheinischen Bezirk, in Berlin, im Herzogtum
Gotha, in Sachsen, die Redaktionen der ›Gleichheit‹, der Braunschweiger, Elberfelder, Erfurter, Nordhäuser, Bochumer, Dortmunder
Parteiblätter und vieler anderer aus lauter Abenteurern und Syndikalisten, dann wimmelt es in der deutschen Sozialdemokratie
von ›Russen‹.« 275
Karl Kautsky bezog sich in seiner Polemik auf Rosa Luxemburgs Artikel »Das belgische Experiment« vom Mai 1913. Engagiert wie
vor rund zehn Jahren formulierte sie darin ihre Meinung über ein neues Experiment der belgischen Arbeiterbewegung: den abermaligen
zehntägigen Generalstreik für ein allgemeines und demokratisches Wahlrecht. Diese neun Monate
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