Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
»gemeinsam den Leipzigern ein[zu]heizen« 290 . Die Mehrheit lehnte jedoch eine Oppositionshaltung im Sinne der Erfurter Programmatik ab.
Zur Probe aufs Exempel wurde Rosa Luxemburgs Artikelfolge »Nach dem Jenaer Parteitag«, in der sie erörterte, warum die deutsche
Sozialdemokratie von ihren Traditionen und ihrer Programmatik abzuweichen begann und führende Theoretiker nur Rechtfertigungsideologie
aufboten. Sie quälte sich mit diesen Artikeln, zudem war sie seit dem 24. September wieder auf Versammlungstour im Raum von
Frankfurt am Main:
»Vor Erschöpfung herrscht Leere bei mir im Kopf.« Habe Leo Jogiches keine Ideen, wie sie die Linken nach der »Schlappe« ermuntern
könne? 291 Sie konzentrierte sich schließlich darauf, den gefährlichen Opportunismus zu entlarven, mit dem die meisten Vorstandsmitglieder
sowie Vertreter und Anhänger des »marxistischen Zentrums« die Politik der Fraktion rechtfertigten und die Linken um Rosa Luxemburg,
Franz Mehring, |432| Karl Liebknecht und Clara Zetkin als »Revoluzzer« isolierten. Dieses Fazit wurde erst 1927 gedruckt, 292 , da die »Leipziger Volkszeitung« die Artikel gegen den Willen des amtierenden Chefredakteurs Marchlewski zurückwies. Illusionslos
gestand sie ein: Der Skandal mit der »Leipziger Volkszeitung« kompromittiert »ganz gewaltig unseren Flügel und offenbart unsere
Schwäche« 293 .
In der Tat hatten die führenden deutschen Linken 1913 nur noch wenige einflußreiche Positionen auf zentraler Ebene inne: Clara
Zetkin war Mitglied der Kontrollkommission und Chefredakteurin der »Gleichheit«, Karl Liebknecht gehörte der Reichstagsfraktion
an, und Rosa Luxemburg sowie Franz Mehring lehrten an der Parteischule.
Da neue Publikationsmöglichkeiten in Zeitungen mit großem überregionalen Einfluß schwer zu finden waren, beschlossen Rosa
Luxemburg, Julian Marchlewski und Franz Mehring, eine »Sozialdemokratische Korrespondenz« ins Leben zu rufen, über die sie
ihre Artikel der Parteipresse in ganz Deutschland anbieten konnten. Vom 27. Dezember 1913 bis 21. Dezember 1914 erschienen
jeweils 150 hektographierte Exemplare, die von 60 Zeitungsredaktionen, der »Gleichheit« und 14 Personen regelmäßig bezogen
wurden. Von Januar 1915 bis 13. Mai 1915 wurde nur noch Julian Marchlewskis »Wirtschaftliche Rundschau« auf diese Weise vertrieben.
Unschätzbare Hilfe beim Abschreiben, Hektographieren und Versenden der Korrespondenz leistete Mathilde Jacob. Die am 8. März
1873 geborene Berlinerin betrieb seit 1907 in Moabit ein kleines Schreib- und Übersetzungsbüro, zeitweise mit einer Angestellten
und einem Lehrmädchen, um Mutter und Schwester nach dem Tod des Vaters ernähren zu können. Mit der Arbeiterbewegung kam sie
vermutlich über ihren jüngeren Bruder Harry in Kontakt, der gewerkschaftlich aktiv war und ihr gelegentlich zu Aufträgen verhalf.
Mathilde Jacob erinnerte sich: »Karski [Marchlewski] und Mehring diktierten ihre Artikel bei mir. Rosa Luxemburg sollten Weg
und Mühe erspart werden, und so wurden auch ihre Manuskripte von den beiden diktiert. Dabei hatten sich manchmal kleine Irrtümer
eingeschlichen, und Rosa Luxemburg, die Druckfehler in ihren Arbeiten haßte, kam schließlich |433| selbst zu mir. ›Auf Ihrer Maschine sind Sie aber Meister‹, sagte sie nach kurzer Zusammenarbeit beim ersten Besuch. – Es war
sogleich ein Kontakt zwischen uns hergestellt, und nach beendetem Diktat bat sie, beim Vervielfältigen helfen zu dürfen. […]
Die von Rosa Luxemburg gemachten Korrekturen kamen aber beim Vervielfältigen nicht deutlich heraus. – ›Ach‹, meinte sie, ›nicht
einmal dazu bin ich zu gebrauchen!‹« 294 Die vergeblich von einer höheren Bildung träumende Mathilde Jacob war von Rosa Luxemburg begeistert. »Als Rosa Luxemburg
das erste Mal zu mir kam, […] machte sie sofort einen tiefen Eindruck auf mich. Ihre großen leuchtenden Augen, die alles zu
verstehen schienen, ihre Bescheidenheit und Güte, ihre fast kindliche Freude an allem Schönen, ließ mein Herz für sie höher
schlagen. Bewundernd blickte ich zu dieser Geistesgröße auf, die beinahe dürftig gekleidet war.« 295
Rosa Luxemburg gewann in dieser zuverlässigen, bescheidenen, stets hilfsbereiten und warmherzigen Frau eine glühende Verehrerin,
Vertraute und Freundin, die ihr bald manche Sorge abnahm.
15 Jahre nachdem sie in die deutsche Sozialdemokratie eingetreten war und sich durch ihr publizistisches,
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