Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
der Abstimmung der Kriegskredite am nächsten Tag, und der Reichskanzler beschwor in einer Vorbesprechung für
die Reichstagssitzung die Vertreter aller Parteien und der Regierung, Einmütigkeit zu beweisen und die Mittel für die »Vaterlandsverteidigung«
zu bewilligen. Die anwesenden Sozialdemokraten Hugo Haase und Philipp Scheidemann versicherten, die Entscheidung der Fraktion
vorwegnehmend, daß die sozialdemokratischen Abgeordneten die Kredite bewilligen würden. In der Fraktion kam es zwar noch einmal
zu heftigen Auseinandersetzungen, doch die Mehrheit der Befürworter |466| setzte sich durch, denn, so erklärte der mit tonangebende Eduard David, »der Augenblick gebiete, sich von überkommenen Vorstellungen
loszusagen und umzulernen« 81 . Obwohl sie geahnt hatte, was bevorstand, brachte der Fraktionsbeschluß vom 3. August Rosa Luxemburg völlig aus der Fassung.
»Als ich die Botschaft meinen Redaktionskollegen überbrachte«, berichtete Heinrich Ströbel, der an der Sitzung für die Redaktion
des »Vorwärts« teilgenommen hatte, »waren sie zerschmettert. Rosa Luxemburg, die gleichfalls den Bescheid erharrte, wurde
von konvulsivischen Wein- und Wutkrämpfen geschüttelt.« 82 Am Abend ging Hugo Eberlein mit Rosa Luxemburg vom »Vorwärts«-Gebäude in der Lindenstraße nach Südende. Sie kamen aus der
erweiterten Vorstandssitzung des Sozialdemokratischen Wahlvereins für Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg, wo sie vom Vorsitzenden
nur »leere Redensarten« hörten. »Rosa drängte den alten Zubeil, den Reichstagsabgeordneten unseres Kreises, über die Beschlüsse
und Festlegungen der Fraktion zu der morgigen Reichstagssitzung zu berichten. Auf der Tagesordnung standen die Kriegskredite.
Der Abgeordnete Zubeil machte ein hilfloses Gesicht und berief sich auf die Schweigepflicht der Fraktion. Wir verlangten Mobilisierung
der Massen, Massenversammlungen, Massendemonstrationen gegen den Krieg und Ablehnung der Kriegskredite. Umsonst. Die Leitung
verbarg sich hinter dummen organisatorischen Kompetenzfragen. Die Sitzung verlief wie das Hornberger Schießen. Auf dem Heimweg
erklärte Rosa: ›Wir haben das Schlimmste zu befürchten. Die Reichstagsfraktion wird uns morgen verraten. Sie wird sich nur
der Stimme enthalten!‹« 83
Am 4. August marschierten ohne Kriegserklärung deutsche Truppen in das neutrale Belgien ein. Diesen Völkerrechtsbruch nahm
England zum Anlaß, Deutschland am selben Tage den Krieg zu erklären. Am Nachmittag stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion
mit allen übrigen Abgeordneten unter dem Slogan »patriotische Pflichterfüllung« und mit erzwungener Disziplin der 14, die
in der Fraktionssitzung dagegen opponiert hatten. Keine Rede war mehr vom Kampf gegen den Krieg. Millionen Proletarier leisteten
der Einberufung Folge. Viele Sozialdemokraten gehörten zu den ersten, die |467| eingezogen wurden. Nationalistische und chauvinistische Stimmungen hatten Hochkonjunktur. »Bis weit in die Kreise selbst des
linken Flügels der sozialdemokratischen Partei ging diese Kriegsbegeisterung«, erinnerte sich Alfred Grotjahn. » Konrad Haenisch , der Radikalsten einer, und Paul Lensch , genannt der ›Jakobiner‹, wurden zu glühenden Patrioten. Der russische Bohemien Helphand gar, der seit Jahren die Parteipresse mit den revolutionären Parvus-Leitartikeln versah, erglühte in besonderer Weise für
den Kampf gegen den Zarismus: er spekulierte in Getreide und anderen nützlichen Waren und wurde durch den Krieg zum Multimillionär.
Ganz unentwegt auf der alten Bahn wandelten eigentlich nur Karl Liebknecht und die beiden radikalen Parteigenossinnen Luxemburg
und Zetkin, die ›Rosa‹ und die ›Klara‹.« 84
Als Hugo Eberlein Rosa Luxemburg nach der Reichstagssitzung aufsuchte, erwog sie demonstrativen Selbstmord. Ihre Freunde brachten
sie von dem Gedanken ab. Rosa Luxemburg selbst erzählte es Luise Kautsky. 85
Noch am Abend des 4. August trafen sich in Rosa Luxemburgs Wohnung Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, Franz
Mehring, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck. In der Frage, was man dem Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus entgegensetzen
müsse und könne, erzielten sie keine Übereinkunft. Der Vorschlag, als sichtbaren Protest aus der Partei auszutreten, wurde
abgelehnt, auch von Rosa Luxemburg. Hugo Eberlein erinnerte sich: »… wir einigten uns, sofort alle uns bekannten Genossen,
von denen wir überzeugt
Weitere Kostenlose Bücher