Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
verteidigten. Besonders ergreifend wirkte die Beteuerung von
Jean Jaurès, das von der Internationale vertretene Proletariat fühle seine Macht und werde auf dem bevorstehenden Kongreß
in Paris das Verlangen nach Gerechtigkeit und Frieden zum Ausdruck bringen. Rosa Luxemburg war so müde und erschöpft, daß
sie das Wort nicht ergreifen konnte. |462| Jaurès ließ es sich nicht nehmen, sie vor allen als tapfere Frau zu begrüßen, »die die Flamme ihres Gedankens ins Herz des
deutschen Proletariats versetzt« 70 , dessen zahlreiche Friedenskundgebungen der letzten Tage er besonders hervorhob.
Am Schluß der Sitzung herrschte zwar gedämpfte, doch zuversichtliche Stimmung. Gewiß müßten, wie Jaurès erklärte, noch Höhe-
und Tiefpunkte durchlebt werden. »Aber diese Krise wird sich wie die anderen lösen.« 71 Troelstra hingegen sagte zu Rosa Luxemburg: »Wissen Sie, was wir jetzt getan haben? Wir haben die Sache in die Hände der
vielgeschmähten Diplomaten gelegt.« 72
Ein Weltkrieg, vor dem sie seit Jahren warnten, schien nach Ansicht der Führer der Sozialdemokratie in den letzten Julitagen
nicht akut zu drohen. Als er wenige Tage später Realität war, mußte Rosa Luxemburg zu ihrem Entsetzen erleben, daß sich die
sozialistische Bewegung als ohnmächtig und ihre Überzeugung von der alles entscheidenden Kraft der Massen als eine große Illusion
erwies.
Vor der Abfahrt genoß Rosa Luxemburg die Aufmerksamkeit Camille Huysmans’. Ihre Eindrücke von dieser Begegnung waren so stark,
daß sie Hans Diefenbach noch Jahre später davon lebendig erzählte. »Sie haben doch wohl auf dem Kopenhagener Kongreß Camille
Huysmans gesehen, den großen Jungen mit den dunklen Locken und dem typischen Vlamengesicht?[…] Zehn Jahre lang gehörten wir
beide dem Internationalen Büro an, und zehn Jahre lang haßten wir einander, sofern mein ›Taubenherz‹ (der Ausdruck stammt
von – Heinrich Schulz, MdR!!) eines solchen Gefühls überhaupt fähig ist. Weshalb – ist schwer zu sagen. Ich glaube, er kann
politisch tätige Frauen nicht leiden, mir fiel wohl sein impertinentes Gesicht auf die Nerven. Es fügte sich nun bei der letzten
Sitzung in Brüssel, […] daß wir zum Schluß einige Stunden zusammen waren. Ich saß gerade – es war in einem eleganten Restaurant
– bei einem Strauß Gladiolen, die auf dem Tische standen und in deren Anblick ich mich ganz vertiefte, ohne mich an dem politischen
Gespräch zu beteiligen. Dann kam die Rede auf meine Abreise, wobei meine Hilflosigkeit in ›irdischen Dingen‹ zum Vorschein
kam, mein ewiges Bedürfnis nach einem Vormund, der mir das Billett besorgt, mich in den |463| richtigen Zug steckt, meine verlorenen Handtaschen einsammelt – kurz meine ganze blamable Schwäche, die Ihnen schon so viele
frohe Augenblicke bereitet hat. Huysmans beobachtete mich schweigend die ganze Zeit, und der zehnjährige Haß wandelte sich
in einer Stunde in glühende Freundschaft. Es war zum Lachen. Er hatte mich endlich schwach gesehen und war in seinem Element.
Nun nahm er sofort meine Schicksale in seine Hand, schleppte mich zusammen mit Anseele, dem reizenden Wallonen, zu sich zu
einem Souper, brachte mir eine kleine Katze, spielte und sang mir Mozart und Schubert vor. Er besitzt ein gutes Klavier und
einen hübschen Tenor, und es war ihm eine neue Offenbarung, daß mir die musikalische Kultur Lebensluft ist. Besonders nett
trug er die Schubertschen ›Grenzen der Menschheit‹ vor; den Schlußvers ›Und mit uns spielen Wolken und Winde‹ sang er ein
paarmal in seiner drolligen vlämischen Aussprache – mit dem tiefen L in der Kehle, etwa wie ›Wouken‹ – in tiefer Ergriffenheit
vor. Dann brachte er mich natürlich zum Zug, trug selbst meinen Koffer, saß dann noch im Coupé mit mir und beschloß plötzlich:
Mais il est impossible de vous laisser voyager seule! [Aber es ist unmöglich, Sie allein reisen zu lassen.] Als ob ich wirklich
ein Säugling wäre. Kaum habe ich ihm ausgeredet, daß er mich nicht wenigstens bis zur deutschen Grenze begleite, er sprang
hinaus, erst als der Zug in Bewegung war, und rief noch: Au revoir à Paris! […] Das war am 31. Juli. Als aber mein Zug in
Berlin anlangte, war hier die Mobilisation schon im vollen Gange, und zwei Tage später war das geliebte Belgien des armen
Huysmans besetzt. ›Und mit uns spielen die Wolken und Winde‹, mußte ich mir wiederholen …« 73
Als sie am Abend des
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