Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
ist zugleich ein respektloser Stürmer gegen hergebrachte Begriffe. Alte Heiligtümer, verehrte Einrichtungen, gläubig nachgesprochene
Formeln werden von seinem eisernen Besen auf denselben Schutthaufen geworfen, auf dem die Reste zerschossener Kanonen, Gewehre,
Tornister und sonstiger Kriegsabfall lagern. Und auch in dieser Hinsicht übertrifft der gegenwärtige Krieg alle seine Vorgänger
an Rücksichtslosigkeit und Wucht seiner Wirkung.« 94 Der Krieg wüte erste wenige Wochen, und schon flögen überall die Fetzen von Staatsverträgen, diplomatischen Bündnissen und
Völkerrechtsnormen herum. Das vielgepriesene »europäische Gleichgewicht« sei zerborsten, das Gute und das Böse habe in nationalistisch
zurechtgestutzten Feindbegriffen vielfach die Plätze gewechselt. Die sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter müßten schauen,
daß »ihre heiligen Ideale nicht auch in Trümmer« 95 gehen.
|472| Doch die Pressezensur der Kriegspartei wie die Selbstzensur derjenigen Sozialdemokraten, die sich auf einen »Burgfrieden«
im Krieg einschwören ließen, erschwerten es der sprachgewaltigen Publizistin außerordentlich, ihren Standpunkt an Leser heranzutragen.
Der mündlichen Agitation und Gesprächen kam daher große Bedeutung zu. Rosa Luxemburg sprach u. a., wie sie berichtete, in
der Sitzung des Parteivorstandes und der Generalkommission der Gewerkschaften am 23. September in Berlin »zwei mal lang« 96 . Am 24. September besuchte sie die Sitzung der Pressekommission mit dem Parteivorstand, einen Tag darauf die Tagung des Zentralvorstandes
des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgebung. Viel konnte sie nicht erreichen, doch bescheinigte ihr
z. B. Rudolf Franz im Tagebuch am 27. September: »Rosas Mitwirkung bei diesen Kämpfen sehr wertvoll!« 97
Ihren Widersachern mißfielen diese Initiativen heftig, ihr Argwohn schlug sich in Tagebüchern nieder: Otto Braun notierte
am 4. Oktober 1914: »Von der Gr[oß]-Berliner Parteileitung sind für Anfang Oktober Mitgliederversammlungen geplant […] Damit
strittige Fragen über den Krieg in den Versammlungen nicht erörtert werden, waren […] die Referenten zusammenberufen, denen
[Eugen] Ernst darlegte, daß sie ihre Referate so einrichten sollten, daß Diskussionen nicht provoziert würden. Da kam er bei
Liebknecht und Rosa [Luxemburg] schön an. L[iebknecht] hielt eine 3/4-stündige Rede, in der er uns Schafsköpfe eingehend belehrte,
was wir reden müßten und wie wir es reden müßten. Sein weibl[iches] Pendant aus Russisch-Polen ergänzte ihn noch in geradezu
unausstehlichen schulmeisterlichen Manier. Sie belehrte uns, daß die Klassengegensätze nach dem Kriege nicht beseitigt sein
würden und auch der Klassenkampf seinen Fortgang nehmen müsse. Auch über den Imperialismus als Ursache der Kriege müsse man
reden, und was dergleichen Plattheiten mehr sind. Um das zu hören, mußte man sich den Nachmittag um die Ohren schlagen.« 98
Eduard David vermerkte unter dem 25. September in seinem Kriegstagebuch, Luxemburg wie Liebknecht hätten dafür plädiert, vor
allem über die Ursachen des Krieges zu sprechen. »Ich trete dem entgegen. Eine Polemik wäre dann unausbleiblich. |473| Ich schlage als Thema vor: Unsere Aufgaben während des Krieges […] Der Vorschlag findet bei der Mehrheit zwar Beifall, wird
von Liebknecht und Luxemburg aber heftig bekämpft. Das seien nur Seifenblasen, Sand in die Augen, Aktionen im Interesse der herrschenden Klassen, um sich
den Rücken zu decken im Innern, während der Kampf nach außen tobe […] Der Berliner Vorstand hat auf Grund der Diskussion beschlossen,
keine allgemeine Versammlungsveranstaltung zu empfehlen, sondern es den einzelnen Kreisen zu überlassen. Dort werden die L[iebknecht]-L[uxemburg]L[edebour(?)]
nun natürlich in ihrem Sinne wirken. Sie sollen bereits die Mehrheit der Berliner Vertrauensleute hinter sich haben.« 99
Rosa Luxemburg schätzte die Lage anders ein. Sie war allerdings nach wie vor überzeugt, daß die Arbeitermassen auf ihrer Seite
wären, wenn sich nur eine Gelegenheit böte, ihnen alles zu erläutern. »Aber in der Zwischenzeit nutzen die Karrieristen den
Belagerungszustand für Versuche, uns zu terrorisieren und die Massen zu demoralisieren. Doch mehr und mehr ändern ihre Haltung.« 100
Bin jetzt einigermaßen zur Besinnung gekommen
Als Rosa Luxemburg dies an Kostja Zetkin im Oktober 1914 schrieb, hoffte sie, neben vielen
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